Ein Mann lässt los

Robert Peroni ist ein rastloser Expeditionär und Abenteurer. Erst eine desaströse Rekorddurchquerung Grönlands öffnet ihm die Augenfür seinen Irrsinn. Ein Inuitdorf wird ihm zur Heimat

Groß und hager, mit langen Beinen und einem scharf geschnittenen Gesicht, sieht er aus wie aus Hartholz geschnitzt. Unter buschigen Brauen leuchten die Augen, die Haut braun gebrannt, von Wind und Wetter gegerbt. Robert Peroni, der Abenteurer, hat sich von jung auf mehr zugemutet, als man für menschenmöglich hält.

Der Mann, der einige Berge als Erster bestieg, alleine die Naomidwüste in Afghanistan erkundete und die erste Expedition leitete, die das Grönlandeis an seiner breitesten Stelle durchquerte, prahlt nicht mit seinen Rekorden. „Wer den Ehrgeiz hat, alle Achttausender zu besteigen, sollte vor dem letzten aufhören“, sagt er bei einem Gespräch in einem Café am Münchner Stachus, wo er sich so heimisch fühlt wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Es ist 30 Jahre her, als er spürte, was er verliert, wenn er weitermachen würde wie bisher. Er hatte ein aufregendes Leben und verdiente gut dank Sponsoren, die jedes Unternehmen finanzierten, mit dem auch sie auftrumpfen konnten. Er war süchtig nach den Gefahrenmomenten, dem Nervenkitzel, wenn er einen Fehltritt machen oder ausrutschen würde, wäre alles vorbei. Und er liebte das Gefühl der eigenen Kraft und Geschicklichkeit, der er immer wieder das Überleben verdankte.

Er ging auf die 40 zu, als man ihn drängte, seine Idee einer Expedition durchs grönländische Inlandeis zu verwirklichen, Hunderte von Kilometern Fußmarsch, ohne Schlittenhunde, Versorgungsdepots, technische Hilfsmittel und Funkkontakt zur Außenwelt. Er würde Neuland betreten, Materialien testen und den bisherigen Rekord brechen, so lockte man ihn. Doch Peroni, der noch nie in Grönland gewesen war, winkte ab. „Ich wollte nicht mehr mitmachen in diesem Wettlauf, noch spektakulärer, noch extremer, noch effektvoller für die Werbung“, sagt er. „Ich kam mir vor wie eine dressierte Maus.“

Die Sponsoren ließen nicht locker, und als sie sagten, der bisherige Rekord sei eigentlich nicht zu brechen, war sein Ehrgeiz geweckt. Zusammen mit Pepi Schrott und Wolfgang Thomaseth, Südtiroler wie er, startete Peroni im Mai 1983 vom Smalle Fjord im Nordosten zum 88-tägigen Marsch an die Westküste, die Melvillebucht bei Nuussuaq. Statt der vorgegebenen 800 bis 900 Kilometer sind es 1400, eine Tortur, die Peroni in seinem Buch „Der weiße Horizont“ beschreibt. Zuvor hatten die drei einen Vertrag abgeschlossen, auf Beistand zu verzichten, falls einer von ihnen erkranken oder sich schwer verletzen würde. Jeder hatte sich vorsorglich den Blinddarm entfernen lassen, zum Amputieren erfrorener Finger oder Zehen kam Operationsbesteck ins Gepäck. Die Stille, die Strapazen, die Schneewüste mit ihrem Horizont, der nie näher kam – es war genau das, was Abenteurer suchen, ein „Fest der Leiden“, wie jemand das einmal nannte. Kein Laut zu hören, kein Lebewesen zu sehen. Thomaseth wollte sterben und musste zum Weitergehen gezwungen werden, Peroni selbst hatte Halluzinationen, wähnte sich verfolgt, hörte Autohupen und glaubte, ein Porsche sei hinter ihnen her.

Endlich am Ziel, die Haut an den Füßen in Fetzen, Erfrierungen an Fingerkuppen und Nasenspitzen, stopften sie sich mit Keksen voll und erbrachen alles wieder. Peroni hatte den Rekord der Rekorde gebrochen und endgültig genug. Eben in diesem Grönland, wo er so gelitten hatte, in dieser weißen Wüste von erhabener Schönheit, wo man oft nichts als den Schnee fallen hört, wollte er ein neues Leben beginnen. Nun mehr als 70 Jahre alt, lebt er seither mit den Inuit und will nicht wieder weg. „Ich war immer ein rastloser Mensch, konnte Stillstand nicht ertragen. Tasiilaq, wo ich jetzt zu Hause bin, hat mich zur Ruhe gebracht.“

Der Ort, mit 2000 Einwohnern die größte Siedlung der Ostküs­te, liegt auf einer Insel in einem engen Fjord. Es gibt kein Kino, keinen Friseur, kein Restaurant, und die Waren, die fünf dänische Containerschiffe im Sommer bringen, müssen für drei Viertel des Jahres reichen. Grönland, die größte Insel der Erde, ist vielleicht Peronis kühnstes Abenteuer: nicht nur zu überleben, sondern sein Leben zu verbringen als Fremder in einem Land von Nomaden, das sechsmal die Fläche von Deutschland misst, lediglich 58 000 Einwohner zählt und fast ganz mit Eis bedeckt ist.

Es ist eine andere Welt, unvertraut leer und voller Geheimnisse. In seinem Buch „Kälte, Wind und Freiheit“ schreibt Peroni, was er alles an Seltsamem erlebt hat. Wie damals, als er in Europa im Krankenhaus im Sterben lag und unversehens ein Anruf aus Tasiilaq kam. Ein Inuit war am Apparat und sagte seiner am Bett wachenden Lebensgefährtin, sie wüssten, dass er im Sterben liege. Auf ihre Frage, woher, sagte er, als verstehe sich das von selbst: „Weil sein Hund heult wie ein Mensch.“

Wenn der Leithund eines Jägers das tut, glauben die Inuit, muss er getötet werden, damit sein Herr gerettet wird. Der Inuit fragte um Erlaubnis, dies zu tun, und Peronis Freundin gab sie ihm. „Zwei Tage später erwachte ich aus dem Koma“, sagt Peroni.

Mit einer Schamanin der Inuit war er eng befreundet. Gudrun habe immer gewusst, wo er sich aufhalte und wie es ihm gehe, sagt er, ob er nun in Grönland gewesen sei oder in Europa. Im Ort, wo sie aufwuchs, wird erzählt, sei einmal ein hungriger Eisbär aufgetaucht, als die Männer auf der Jagd und keine Waffen da waren, mit denen die Frauen das Tier hätten vertreiben können. Da sei die sechsjährige Gudrun zum Entsetzen der Mutter aus dem Haus gelaufen, auf den Eisbären zugegangen, habe ihn gestreichelt und ihm ins Ohr geflüstert, er müsse zurück, von wo er hergekommen sei. Der Eisbär habe sich umgedreht, sei ins Meer gesprungen und verschwunden.


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Peter Haffner und Barbara Dombrowski

Peter Haffner, 1953 geboren, ist Reporter, Essayist und Buchautor. Er lebt in Zürich und schreibt unter anderem für die „Neue Zürcher Zeitung“. Für mare schrieb er in No. 99 über die Hausbootbewohner von Sausalito bei San Francisco.

Barbara Dombrowski, Jahrgang 1964, ist freie Fotografin in Hamburg und Mitglied der Fotoagentur laif. Seit fünf Jahren arbeitet sie an ihrem Buch- und Ausstellungsprojekt „Tropic Ice“, das den Klimawandel im Amazonasgebiet sowie in Grönland dokumentiert. Auf einer der Reisen lernte sie Peroni kennen.

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Vita Peter Haffner, 1953 geboren, ist Reporter, Essayist und Buchautor. Er lebt in Zürich und schreibt unter anderem für die „Neue Zürcher Zeitung“. Für mare schrieb er in No. 99 über die Hausbootbewohner von Sausalito bei San Francisco.

Barbara Dombrowski, Jahrgang 1964, ist freie Fotografin in Hamburg und Mitglied der Fotoagentur laif. Seit fünf Jahren arbeitet sie an ihrem Buch- und Ausstellungsprojekt „Tropic Ice“, das den Klimawandel im Amazonasgebiet sowie in Grönland dokumentiert. Auf einer der Reisen lernte sie Peroni kennen.
Person Von Peter Haffner und Barbara Dombrowski
Vita Peter Haffner, 1953 geboren, ist Reporter, Essayist und Buchautor. Er lebt in Zürich und schreibt unter anderem für die „Neue Zürcher Zeitung“. Für mare schrieb er in No. 99 über die Hausbootbewohner von Sausalito bei San Francisco.

Barbara Dombrowski, Jahrgang 1964, ist freie Fotografin in Hamburg und Mitglied der Fotoagentur laif. Seit fünf Jahren arbeitet sie an ihrem Buch- und Ausstellungsprojekt „Tropic Ice“, das den Klimawandel im Amazonasgebiet sowie in Grönland dokumentiert. Auf einer der Reisen lernte sie Peroni kennen.
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