Ein leiser Held

Wilfried Erdmann war der größte deutsche Segler aller Zeiten. Nun starb der Einhandheld im Alter von 83 Jahren. Ein Nachruf

Erzählt habe ich es niemandem; man hätte doch nur gelächelt, denn zu viele hatten große Pläne und haben nichts erreicht“, schreibt Wilfried Erdmann am Morgen des 10. September 1966 über den Aufbruch zu seiner ersten Weltumsegelung in sein Logbuch.

Der Held brach still auf, allein, auf einem Holzboot von nur 7,60 Meter Länge, fast ohne seglerische Erfahrung, aber mit eisernem Willen und nach einer langen Zeit der perfekten Vorbereitung. Na ja, fast perfekt. Denn seine Uhr, damals noch absolut notwendig zur Bestimmung des Längengrades, also der exakten Posi­tion auf hoher See, war kaputt. Vier Tage zuvor war ihr Besitzer bei dem Versuch, an Bord zu klettern, ins Meer gestürzt – und die Uhr nass und somit unbrauchbar geworden. Schuld an dem Sturz waren ein paar Gläser Vino tinto zu viel, die ­Wilfried Erdmann am Abend zuvor trank, nachdem er sich in sein zweites Schicksal, Astrid, verliebt hatte. Er befürchtete, nun doch nicht loszusegeln, seinen lang gehegten und über Jahre akribisch ­vorbereiteten Traum einer Weltumsegelung nicht zu realisieren. So bestimmte letztlich seine Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit den Zeitpunkt der Abfahrt. 

Mit dieser Beschreibung beginnt ­Wilfried Erdmanns erstes Buch „Mein Schicksal heißt Kathena“. Schon auf den ersten Seiten offenbart es einige seiner wichtigsten Wesenszüge, vor allem seine Bescheidenheit und die Scheu, über unerledigte Taten zu sprechen. Als er mich später, vor seiner dritten Umsegelung gegen die vorherrschenden Westwinde, fragte, ob ich ihm jemanden nennen ­könne, der seine „Kathena Nui“ innen gegen Kälte isolieren könne, und ich ihn fragte, was genau er vorhabe, nuschelte er so undeutlich etwas von Eis und Kälte, dass ich nicht nachhakte. Zu klar war sein Unbehagen, über diese geplante dritte Weltumrundung zu sprechen – ganz ­ähnlich wie bei seiner ersten. 

Zu unserem Glück schrieb Wilfried Erdmann 20 Bücher, hielt seine Abenteuer auf DVDs fest, sprach Hörbücher ein oder berichtete auf zahlreichen Vorträgen von seinen Reisen, immer kenntnisreich, äußerst lebendig und spannend. Bei aller persönlichen Zurückhaltung zeigte sich hier sein durchaus ausgeprägter Stolz und seine Bereitschaft, von seinen Abenteuern zu erzählen. Er musste sie eben nur erst bestanden haben. 

Die ersten Kapitel dieses Buches zeugen auch von Erdmanns energetischer und kognitiver Seite und von seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion. Mit schier unglaublicher Zielstrebigkeit verfolgte er seine Träume, plante alles akribisch bis ins kleinste Detail. Nach seinem Entschluss, um die Welt zu segeln, fuhr er zunächst als Matrose und Schiffszimmermann zur See, mit zwei klar definierten Zielen: Er wollte die Seefahrt und die See an sich kennenlernen, und er wollte sein hart verdientes Geld – das er brauchte, um sein eigenes Boot zu erwerben – nicht so schnell wieder ausgeben können. Diese Entscheidung zur Selbstdisziplin traf er durchaus bewusst, denn bei aller Fähigkeit zum einfachen Leben auf See besaß Wilfried Erdmann einen starken Hang zum Hedonismus.

So war gutes Essen an Bord für ihn immer elementar, er war Rotwein nicht abgeneigt, schwärmte für langes Haar und liebte das paradiesische Leben in den ­Tropen. Die Ursache seines abrupten ­Aufbruchs von Gibraltar und der Verlust seiner Uhr belegen nicht nur seine Lebenslust; seine „Flucht mit Folgen“ ist auch Zeugnis, dass er genau wusste, was sein Unterfangen gefährden könnte. Der heldenhafte Einhandsegler war sich seiner Lebensfreude bewusst.

Ein weiterer wesentlicher Erfolgs­garant für seine Abenteuer war, dass er sie niemals naiv anging, sondern die möglichen Gefahren auf hoher See präzise antizipierte. Während die meisten Segler auf viel Technik an Bord und schiere Schiffsgröße setzen, um den Gefahren zu begegnen, plante Wilfried Erdmann nach den Gesetzen des Meeres: Ein breites Brückendeck erlaubt sicheren Zugang zum Vordeck, eine tiefe, selbst lenzende Plicht schützt vor hohen Brechern und deren Folgen, außen laufende Fallen, am Mast bedienbar, klemmen kaum und sind schnell nachrüstbar, die Abwesenheit von Borddurchlässen, wie auf der „Kathena Nui“, verhindert folgenschwere ­Leckagen, wenig Technik bedeutet, dass wenig kaputtgehen kann, Kuttersegel reduzieren die zu bewältigende Segelfläche. Dieses vorausschauende Planen und die schnelle Analyse, wenn eine Gefahr real wurde, trugen entscheidend zum Gelingen seiner Unternehmen bei.

Im Zusammenhang mit Reinhold Messners Bergsteigerrekorden wurde oft über dessen starke Willenskraft und die außergewöhnliche Physis geschrieben, die diese Leistungen ermöglichten. Bei Jan Ullrich waren es die perfekt proportionierten Fahrradbeine. Bei Wilfried Erdmanns Segelrekorden ist es das konge­niale Zusammenspiel von eben diesen Eigenschaften: Bescheidenheit, und somit auch Respekt vor den Naturgewalten, eine außergewöhnliche Fokussierung auf das Ziel mit entsprechender Vorbereitung, die Fähigkeit, Situationen schnell und präzise zu erfassen, sowie ein ausgeprägtes Reflexionsvermögen, zu dem auch eine kluge Selbsteinschätzung gehörte.

Das mag etwas allgemein klingen, war in der Kombination und Ausprägung aber einmalig und die unbedingte Voraussetzung für Leistungen, die wir gar nicht genug würdigen können: Erdmanns erste Weltumsegelung fand quasi parallel zu der von Sir Francis Chichester statt, nur unter viel schwierigeren Umständen, und seine zweite Weltumsegelung, nonstop und Einhand um die Welt, wurde erst nach über 35 Jahren von Boris Herrmann egalisiert. Seine dritte Weltumsegelung, wiederum allein und nonstop, aber gegen die vorherrschende Windrichtung, muss wohl als größte seglerische Leistung auf Erden gelten. Erdmann war mit 60 Jahren und bis heute nicht nur der älteste Bezwinger, sondern auch auf dem kleinsten Boot unterwegs und der vierte Mensch überhaupt, dem diese Umrundung gelang. In den 23 Jahren seither waren nur zwei weitere Segler dabei erfolgreich. 

Die eigentlichen Wunder sind aber nicht Wilfried Erdmanns Rekorde, voller Einsamkeit, Können, Mut, Angst und deren Überwindung, Erschöpfung, Zuversicht und Professionalität. Das eigentliche Wunder war, dass Wilfried Erdmann dies alles ganz für sich allein machen musste. Was ihn trieb, waren eine innere Notwendigkeit und das Streben nach absoluter Unabhängigkeit – und niemals der Wunsch nach Geltung, gesellschaftlicher Anerkennung oder der Stärkung seines Egos. Seine leise Stimme und seine zugewandte Höflichkeit passten auch nicht zum Heldengebaren üblicher Abenteurer.

Der einzige Mensch, der mein Segelboot nur mit Socken betrat (trotz meines Protestes), der sich danach still und ausführlich jedes Detail an Bord ansah und beim Betrachten des Mastes ganz leise, aber für mich vernehmbar sagte: „Am Schiff wird es nicht liegen“ – der wusste, dass dieses Boot und die geplanten Routen fast ausschließlich auf seinen Büchern beruhten, dass seine Berichte und seine Ideen und Prinzipien des Segelns all dies begründet hatten. Und er sagte nur diesen einen Satz. 

Er wusste, er hatte mit allem recht, er wusste um seinen Einfluss, seine Be­deutung für unendlich viele Segler. Aber darüber sprechen mochte er nicht so gern. Lieber schrieb er alles auf. Zum Glück. So bleibt uns Wilfried Erdmann, der bedeutendste deutsche Segler aller Zeiten, mit seinen Gedanken, seinen Ideen, seinem Leben für uns immer erhalten. 

mare No. 159

mare No. 159August / September 2023

Von Nikolaus Gelpke

Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare.

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Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare.
Person Von Nikolaus Gelpke
Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare.
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