Ein Leben im Fluss

New York ist der Inbegriff des Hafens. Die Stadt ist offen für alle. Besonders für Leute, die anderswo anecken

Von Anfang an, als New York noch ein kümmerliches Fort der Holländer war, verkörperte die Stadt bereits den Inbegriff des Hafens, Anziehungspunkt für Menschen aus aller Herren Länder. Anders als Boston oder Philadelphia, beides konservative, zugeknöpfte Orte, ließ man New York schon immer freien Lauf. Jene, die anderswo aneckten, hier passten sie hinein, New York, Anlaufhafen der Außenseiter.

Zum ersten Mal auf westlichem Boden fanden die Feierlichkeiten zu Rosh Hashanah, dem jüdischen Neujahrsfest, in New York statt. Die Metropole hieß nicht nur Menschen aller Glaubensrichtungen willkommen, sie war von jeher ein Hort von wahren Originalen. Einer meiner Lieblinge ist Lord Cornbury, Gouverneur zur Zeit von Queen Anne. Lord Cornbury war ganz un- verhohlen Grenzgänger der Geschlechter. Zwar war es damals unter Männern groß in Mode, sich mit Perücken, Samt und Spitzenkragen herauszuputzen, aber Lord Cornbury ging weiter. Er trug ausfallend große Perücken mit breiten Schleifen, Samtkleider mit tiefem Dekolleté und Schminke. Und niemand stieß sich daran; er passte einfach dazu. „Ich repräsentiere Queen Anne, und ich habe mir vorgenommen, mich so genau wie möglich an das Vorbild zu halten.“

Eines der ersten Bücher, die ich als Kind geschenkt bekommen habe, war ein Buch über den Hafen von New York. Die Bilder darin hatten etwas von Cartoons. Zu sehen war großes Gedränge im Hafenbecken, in dem es von Schleppern, Ozeandampfern und Lastkähnen nur so wimmelte. Menschen lehnten sich aus Fenstern und winkten Reisenden in Booten zu, Wäscheleinen hingen vom einen Ufer zum anderen. Als Kind des Mittleren Westens, von Land umschlossen, träumte ich immer vom Leben am Meer. Und genau dieser Hafen schien mir Freiheit zu sein.

Wasser von allen Seiten

Seit mehr als 20 Jahren lebe ich schon an der Canal Street, die nahe am Hudson River verläuft. Ringsherum nur Wasser. Unter dem Asphalt der Straße verläuft ein Kanal, der vom Hudson abzweigt, dann einmal quer durch die Stadt führt und schließlich in den East River mündet.

Jeden Frühling macht die Polizei in Booten ihre Runde, um Leichen aus dem Wasser zu fischen. Tote, die im Winter auf den Grund gesunken sind und nun, da es wärmer wird, an die Oberfläche treiben und flussabwärts ziehen. Manche verfangen sich an den Pfeilern der Piers, die Polizei zieht sie heraus, hüllt sie in schwarze Plastiksäcke und bringt sie ins Leichenschauhaus, wo sie dann harren, dass jemand sie identifiziert.

Als ich Anfang der siebziger Jahre hierher kam, rotteten die Piers vor sich hin. Viele Jahre waren vergangen, seit die Kräne zuletzt die Schiffsladungen löschten. In manchen der Schuppen hatten sich Junkies und Hausbesetzer eingerichtet, in anderen türmten sich Berge von gelagertem Salz. Das Areal war nunmehr der Schandfleck der Stadt.

Mittlerweile ist alles anders. Fast so, als seien wir eines Morgens aufgewacht und hätten uns in Minneapolis befunden, einer Stadt, wo Bauten und Wasser ineinander übergehen. Ich erinnere mich genau an den Tag, als der Hudson River Park seine Tore öffnete und ich mit anderen Künstlern aus Downtown dorthin gegangen bin, um mir alles anzuschauen. Ungläubig starrten wir auf Gartenlauben, Picknickflächen und Wiesen, die bis ans Wasser reichten, auf Promenaden, die das Ufer säumten. Auf einmal konnte man am Hudson flanieren, ihn riechen und den Wind vom Atlantik auf der Haut spüren. Heute drängelt sich halb New York auf diesen Wegen, Jogger, Radfahrer, Kinderwagen und Rollstühle dicht an dicht.

Dort liegt nun eure Inselstadt der Manhattos, umgürtet mit Kais wie die Inseln im Indischen Meere mit Korallenriffen. Schaut euch die Scharen der Wassergaffer dort an. Durchwandert die Stadt an einem verträumten Sabbatnachmittag. Geht von Corlears Hook nach Coenties Slip und von dort über Whitehall nach Norden. Was seht ihr? Stummen Schildwachen gleich, stehen überall in der Stadt Tausende, Abertausende von Sterblichen, gefangen in ozeanischen Träumereien. Manche lehnen gegen die Duckdalben, manche sitzen auf den Molenköpfen, manche schauen über das Schanzkleid von Schiffen aus China, manche hocken hoch oben im Rigg, als wollten sie einen noch besseren Blick auf die See erhaschen. Da stehen sie, eine, ja viele Meilen weit. Allesamt Binnenländler, strömen sie aus Wegen und Gassen, aus Straßen und Alleen herbei – aus Norden, Osten, Süden und Westen. Und doch, hier vereinen sie sich alle. Sagt mir, ist es vielleicht die magnetische Kraft der Kompassnadeln all jener Schiffe, die sie dorthin zieht?
– Herman Melville, „Moby Dick“

Melvilles Bild der New Yorker aus dem 19. Jahrhundert ist nun wieder aktuell. Mit einem Unterschied zu damals allerdings: Die Wassergaffer von heute sind in ständiger Aktion.


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mare No. 33

No. 33August / September 2002

Ein Essay von Laurie Anderson

Laurie Anderson, geboren 1947, zählt zu den führenden Musikern, Komponisten und Avantgardekünstlern unserer Zeit. Die Violinistin arbeitete als Symphonikerin, später als Dozentin für Kunstgeschichte und Architektur. Seit Anfang der achtziger Jahre ist sie erfolgreiche Pop- und Rock-Musikerin und Filmkomponistin. In jüngerer Zeit wandte sie sich wieder verstärkt Performance- und Multimediaprojekten zu. Am 2. September veröffentlicht sie den Mitschnitt ihres viel beachteten Konzerts Live at Town Hall New York City September 19–20, 2001.

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Vita Laurie Anderson, geboren 1947, zählt zu den führenden Musikern, Komponisten und Avantgardekünstlern unserer Zeit. Die Violinistin arbeitete als Symphonikerin, später als Dozentin für Kunstgeschichte und Architektur. Seit Anfang der achtziger Jahre ist sie erfolgreiche Pop- und Rock-Musikerin und Filmkomponistin. In jüngerer Zeit wandte sie sich wieder verstärkt Performance- und Multimediaprojekten zu. Am 2. September veröffentlicht sie den Mitschnitt ihres viel beachteten Konzerts Live at Town Hall New York City September 19–20, 2001.
Person Ein Essay von Laurie Anderson
Vita Laurie Anderson, geboren 1947, zählt zu den führenden Musikern, Komponisten und Avantgardekünstlern unserer Zeit. Die Violinistin arbeitete als Symphonikerin, später als Dozentin für Kunstgeschichte und Architektur. Seit Anfang der achtziger Jahre ist sie erfolgreiche Pop- und Rock-Musikerin und Filmkomponistin. In jüngerer Zeit wandte sie sich wieder verstärkt Performance- und Multimediaprojekten zu. Am 2. September veröffentlicht sie den Mitschnitt ihres viel beachteten Konzerts Live at Town Hall New York City September 19–20, 2001.
Person Ein Essay von Laurie Anderson