Ein kleiner Himmel

In einem kalabrischen Dorf entsteht ein Friedhof für Flüchtlinge, die ihr Leben bei der Überfahrt verloren haben. Der Ort scheint gut gewählt zu sein

Franco Corbelli läuft über das Feld, das einmal seine Vision tragen soll. Es ist trocken, steinig, da sind Disteln, aber auch alte Olivenbäume. Zikaden singen in der Mittagshitze; sie schreien fast, diese kleinen Kreaturen. „Hier werden sie ihre Ruhe finden“, sagt Corbelli gegen das Trommeln der Tierchen an, „gegenüber von Wasser.“ Er zeigt auf den See von Tarsia. „Eine Botschaft der Hoffnung“, fügt er hinzu. Denn Wasser müsse nicht Tod bedeuten.

Corbelli, ein schmaler Mann Anfang sechzig, sieht müde aus. Seit Jahren kämpft er für seinen Traum, auf dem Stück Land zu Füßen von Tarsia einen Gedenkfriedhof zu errichten – für die Flüchtlinge, die auf ihrem Weg übers Mittelmeer ums Leben kamen. Für deren Familien. Und für die Welt. Damit sie nachdenkt über das Drama der Migration. Doch der Weg dorthin ist steinig, wie der Boden, auf dem er steht.

Franco Corbelli kommt nicht aus Tarsia, er lebt 15 Kilo­meter entfernt. Aber man kennt ihn hier. Im Rathaus klopft ihm ein Mann auf die Schulter. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen“, sagt er. „Ich bewundere Ihre Arbeit.“ Corbelli senkt den Kopf und winkt ab. Es sei eine Familientradition, sagt er später. Schon seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern hätten stets auf der Seite derer gestanden, die ganz unten sind. „In jeder Minute, leider“, sagt Corbelli verzweifelt, es ist Mitte Juli 2018, „sterben Menschen.“ Seit es den NGOs verboten sei, die italienischen Häfen anzusteuern, sei die Zahl noch gestiegen. „Das ist der verheerende, der schreckliche Schaden“, sagt er. Und über Innenminister Sal­vini: Er sei eine Persönlichkeit, die sich gar nicht bewusst sei, „welche Schäden an der Menschlichkeit sie anrichtet, an denen, die am ärmsten sind und am meisten leiden, den Migranten“.

Schon als Kind konnte Corbelli keine Ungerechtigkeit ertragen, mit sieben wollte er Journalist werden. Später, neben dem Studium, arbeitete er fürs Radio und als Korrespondent für verschiedene Zeitungen. Heute ist er Berufsschul­lehrer, nebenbei Aktivist. Vor 23 Jahren gründete er die Be­wegung „Diritti Civili“, Bürgerrechte. Längst trägt er einen Verdienstorden des italienischen Staates, ein Laudator nannte ihn „Gandhi Kalabriens“, eine Lokalzeitung schrieb „Kein ­Härtefall, zu dem er nicht geeilt kommt“.

Auf die Idee mit dem Friedhof kam Corbelli im Oktober 2013, als er die Bilder der Tragödie von Lampedusa im Fern­sehen sah. Erschüttert blickte er auf „all die Körper ohne Namen, eingeschlossen in Särgen, vor allem die kleinen weißen, in denen Kinder lagen“. Jetzt werden sie an irgendwelchen Orten begraben, dachte er, und die Erinnerung an sie wird für immer verwischt, weil kein Angehöriger je wissen wird, wo sie ­liegen. „Wenigstens diese Unmenschlichkeit“, sagte er sich, „müssen wir beenden.“

Er rief Mario Oliverio an, den damaligen Präsidenten der Provinz Cosenza. Er kannte ihn aus der Zeit, als er dort Ratsmitglied war. Oliverio gefiel die Friedhofsidee, sagt Corbelli. Doch was fehlte, war ein Ort dafür. Corbelli kontaktierte die Präsidentin der Region. Nichts passierte, monatelang. Er lancierte einen Appell in der Presse: „Gibt es einen Bürgermeister in ganz Kalabrien, der mir die Möglichkeit dafür bietet?“ Doch: „Silenzio!“, sagt Corbelli. Niemand reagierte.

Er bot bereits den kleinen Weinberg an, 5000 Quadrat­meter groß, den er von seinen Eltern geerbt hatte, als die ­Regionalwahlen kamen und die Hoffnung wieder wuchs: Oliverio wurde Präsident von Kalabrien. Erneut dachten sie über den Friedhof nach – und kamen auf Tarsia. Ein Nest von 2060 Seelen, im Inland gelegen. Wieso, um Himmels willen, dort? Weil Tarsia eine besondere Geschichte hat.


In der Nähe, in einem ehemaligen Sumpfgebiet, wurde im Zweiten Weltkrieg das größte Konzentra­tionslager Italiens ge- baut. Es gab 92 Baracken und bis zu 2700 Gefangene, die ­meisten ausländische Juden, die auf der Flucht in Italien verhaftet worden waren, aber auch andere Feinde des faschis­tischen Regimes. Und obwohl es ein Internierungslager war, war es – es ist kaum zu glauben – ein menschlicher Ort.

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mare No. 133

No. 133April / Mai 2019

Von Andrea Walter und Francesco Zizola

Andrea Walter, Jahrgang 1976, kam an einem Julinachmittag in Tarsia an, das wie ein Geisterdorf wirkte. Alle hatten sich vor der Hitze zurückgezogen. Später öffneten sich die Türen wieder. Gerade so, wie die Dorfbewohner sich nach und nach öffneten, je länger Walter und Fotograf Francesco Zizola vor Ort waren.

Francesco Zizola, Jahrgang 1962, ist Mitbegründer der Agentur Noor und lebt in Rom.

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Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, kam an einem Julinachmittag in Tarsia an, das wie ein Geisterdorf wirkte. Alle hatten sich vor der Hitze zurückgezogen. Später öffneten sich die Türen wieder. Gerade so, wie die Dorfbewohner sich nach und nach öffneten, je länger Walter und Fotograf Francesco Zizola vor Ort waren.

Francesco Zizola, Jahrgang 1962, ist Mitbegründer der Agentur Noor und lebt in Rom.
Person Von Andrea Walter und Francesco Zizola
Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, kam an einem Julinachmittag in Tarsia an, das wie ein Geisterdorf wirkte. Alle hatten sich vor der Hitze zurückgezogen. Später öffneten sich die Türen wieder. Gerade so, wie die Dorfbewohner sich nach und nach öffneten, je länger Walter und Fotograf Francesco Zizola vor Ort waren.

Francesco Zizola, Jahrgang 1962, ist Mitbegründer der Agentur Noor und lebt in Rom.
Person Von Andrea Walter und Francesco Zizola