Zu meinem Lieblingsgerichten gehört die chilenische Seeaalsuppe, der caldillo de congrio. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an den Sud aus Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten und Meereskrebsen denke. Und Sahne natürlich, Sahne muss unbedingt dazu, Sahne, so weiß wie das Fleisch des Seeaals. Es ist zart und von einem Geschmack, wie er nur Tiefseefischen eigen ist. Handtellergroße Stücke davon schwimmen in rotgoldenem Saft. Ach, der caldillo de congrio. Irgendwann werde ich ihn bestimmt einmal probieren.
Denn so ist es: Ich habe bislang noch kein Löffelchen der Suppe gegessen. Ich habe sie noch nicht einmal gerochen, ja, nicht einmal gesehen. Fast alles, was ich über sie weiß, stammt aus einem Gedicht des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda. Seine „Ode an die Seeaalsuppe“, die Oda al caldillo de congrio, ist ein lyrisches Rezept, die poetische Feier einer einzigartigen Brühe. Ich kenne die Zeilen seit meiner Kindheit, seither weiß ich, dass die Suppe von erlesenem Geschmack ist. Für mich ist sie, wie gesagt, sogar ausschließlich von erlesenem Geschmack.
Pablo Neruda schrieb das Gedicht Anfang der 1950er-Jahre, es ist Teil seiner „Elementaren Oden“. Darin besingt er auch die Zwiebel, die „rundliche Rose von Wasser auf dem Tisch der armen Leute“, er preist die Artischocke, die Tomate, die Kartoffel.
Von seinem Haus auf der Isla Negra blickte Neruda, umgeben von Piratenbüsten, von Galionsfiguren, Buddelschiffen und Bojen, weit auf den Pazifik. Dort draußen lebt der Seeaal, verborgen zwischen Steinen und in Löchern auf lichtlosem Grund. Ein schuppenloser Riesenfisch von bis zu drei Meter Länge und über 100 Kilogramm Gewicht, eben ein „Aalgigant“.
Fischer trugen ihn ins Haus des Volksdichters, als hätte der Ozean, der „grüne, abgrundtiefe Vater“, seine Bitte erhört, erfleht in der „Ode an das Meer“: „Gib jedem von uns Männern, jedem Weib und jedem Kind einen großen oder kleinen Fisch an jedem Tag.“
Fischer, Bauern, Bergleute versteckten den Kommunisten Neruda in den 1940er-Jahren auf seiner Flucht vor dem Diktator González Videla. Ein Dank der „einfachen Menschen“, für die er schrieb, „für Menschen, die so anspruchslos sind, dass sie sehr oft nicht lesen können“. Nahe seinem Haus auf der Isla Negra liegt er seit 1973 begraben.
Noch immer soll die sinnliche Lyrik Nerudas ein Geheimtipp unter Liebenden sein: „Deine Taille und deine Brüste, der zwiefache Purpur deiner Kuppen, der Taubenschlag deiner Augen, die eben noch flogen, dein breiter Fruchtmund …“ Das ist für die eher behutsam Werbenden. Heißblütigere Eroberer aber, so heißt es, trügen „Die Verse des Kapitäns“ auf den Lippen: „Heute hob das stürmische Meer in einem Kuss uns so hoch, dass wir erzitterten im Licht eines Blitzes.“ Ist auch die „Ode an die Seeaalsuppe“ darunter, wo doch die Liebe durch den Magen geht? Rezitiert ein chilenischer Juan seiner Angebeteten am Kochtopf die Worte Nerudas, derweil sie verträumt das „schneeige Fleisch“ des Aals, das „Traubengebild des Meeres“ mit Knoblauch einreibt?
Poesie sei wie das Brot der Menschheit, meinte Neruda, das von allen geteilt werden sollte. Es darf aber auch gern ein Schlag Seeaalsuppe sein: Zu jedem Neujahr lädt die Kommunistische Partei Chiles ausgewählte Journalisten zu einem traditionellen Essen ein. Einziger Menüpunkt ist der caldillo de congrio nach dem Rezept ihres prominentesten Mitglieds. Ich finde Marx gar nicht so übel. Wäre eine Einladung drin?
„Ode an die Seeaalsuppe“
Im sturmdurchwühlten Meer von Chile lebt der rosenfarbene Seeaal, / der Aalgigant mit schneeigem Fleisch. /Und in den chilenischen Kochtöpfen an der Küste kam zur Welt / die reiche, kräftige, köstliche Suppe. / Man bringt den enthäuteten Aal in die Küche, / seine fleckige Haut lässt sich abziehen wie ein Handschuh, / und da liegt er nun, / nackt, dieses Traubengebild des Meeres, / schon schimmert der zarte in seiner Blöße, / bereit für unsre Begier. / Nun nimm den Knoblauch, / streichle zuerst einmal dieses köstliche Elfenbein, / rieche seinen aufreizenden Duft, / und dann gibst du den Knoblauch, / feingehackt, / mit der Zwiebel und der Tomate hinein, / bis die dünstende Zwiebel goldfarben wird. / Unterdes kochen die Meereskrebse, die königlichen, im Dampf, / und wenn sie gerade gar sind und das Aroma in die Brühe einkocht, / die aus des Weltmeeres Saft besteht / und dem klaren Wasser, das das Licht der Zwiebel ausschied, /dann muss der Seeaal hinein und rühmlich darin untergehen, / auf dass er im Sudtopf sich schließe und voll sich sauge mit Duft und Öl. / Jetzt ist nur noch vonnöten, wie eine geschlossene Rose die Sahne gleiten zu lassen in das Gericht / und auf langsamem Feuer zu brodeln den Schatz, / bis in der Brühe erwärmt sind Chiles Essenzen / und auf den Tisch gelangen, jung vermählt, der Wohlgeschmack des Meeres und der Erde, / auf dass du kennenlernst den ganzen Himmel bei diesem Gericht.
Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.
Sergio Larraín Echeñique war ein chilenischer Fotograf. In den 1960er Jahren war er Mitglied von Magnum Photos. Er gilt als der bedeutendste chilenische Fotograf in der Geschichte und fotografiert Straßenkinder häufig mit "Schatten und Winkeln, wie es bisher nur wenige versucht hatten".
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen. Sergio Larraín Echeñique war ein chilenischer Fotograf. In den 1960er Jahren war er Mitglied von Magnum Photos. Er gilt als der bedeutendste chilenische Fotograf in der Geschichte und fotografiert Straßenkinder häufig mit "Schatten und Winkeln, wie es bisher nur wenige versucht hatten". |
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Person | Von Maik Brandenburg und Sergio Larraín |
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen. Sergio Larraín Echeñique war ein chilenischer Fotograf. In den 1960er Jahren war er Mitglied von Magnum Photos. Er gilt als der bedeutendste chilenische Fotograf in der Geschichte und fotografiert Straßenkinder häufig mit "Schatten und Winkeln, wie es bisher nur wenige versucht hatten". |
Person | Von Maik Brandenburg und Sergio Larraín |