Ein Bordell schwimmt nach Übersee

Die junge Kolonie Australien brauchte Mütter und Mätressen! Englands Richter wussten eine Lösung

Ein Galgenwintermorgen. Schnee stöbert leise von draußen durch die Gitterfenster herein. Sie ist wach genug, noch zu schlafen. Wach genug, die Augen nicht zu öffnen. Schon klirren Ketten durch den Kerker von Kesteven, durch die Hallen, durch die Gänge, in die Zellen. Die Stunde wird kommen, sie wird sich nicht verspäten, keine Minute, keine Sekunde. Transportation to

Parts beyond the Seas, Verbannung hinter das Ende der Ozeane. Die Augen geschlossen, sieht sie vor sich eine Scheibe mit allen Ländern der Erde und allen Meeren, und die Meere wogen und strömen in alle Richtungen und fließen am Ende über eine Kante und verschwinden in einem endlos breiten Wasserfall im Abgrund. Und mit den Wassern das Schiff. Und mit dem Schiff die Frauen. Und mit den Frauen sie selbst. Sarah Whitlam öffnet die Augen.

Drei Masten, ein 36 Meter langes Deck und ein Dickicht aus Takelagen. John Nicol dreht sich nur einmal kurz um, als er die Frauen über die Themse ans andere Ufer rudert, wo die „Lady Juliana“ vor Anker liegt. Das Schiff soll ihn nach Jackson Port bringen, in die neue Kolonie der britischen Krone, New South Wales, die erste europäische Siedlung auf dem australischen Kontinent. Eigentlich hat er sich ja geschworen, die Seefahrerei sein zu lassen und sich zur Ruhe zu setzen. Seit er vor 20 Jahren seine Heimatstadt Borrowstowness im schottischen Tiefland verließ, lebte er fast ausschließlich auf schwankendem Grund, wanderte von Schiff zu Schiff. Seine letzte Reise lag erst ein paar Wochen zurück, da ereilte ihn auch schon der Ruf auf die „Lady Juliana“. Man bräuchte einen Steward. Und der Schwur? Vergessen. Nun steht er an Deck, die Frauen stellen sich vor ihm in einer Reihe auf. Eine nach der anderen hält ihm die Arme hin, und Nicol schlägt mit einem Hammer die Bolzen aus den Ketten. Eine nach der anderen befreit er von den Fesseln. Sarah Whitlam jedoch schließt er in sein Herz.

Sarah Whitlam, 18 Jahre alt, Zimmermädchen, angeklagt, sich in den unrechtmäßigen Besitz gebracht zu haben unter anderem eines pinken, gesteppten Petticoats, eines schokoladenfarbenen Seidentaschentuchs, eines schwarzen Seidenhuts, dreier weißer Leinenschürzen, eines Paares silberner Schuhbeschläge und eines Korsetts im Gesamtwert von 51 Shilling. Geschädigte Partei: die Hausherrin. Urteil: Verbannung für sieben Jahre nach New South Wales. Der Zweck: Sie und die anderen 239 verurteilten Frauen der „Lady Juliana“ sollen dem Wachstum der vor einem Jahr, im Februar 1788, gegründeten Kolonie förderlich sein und das Ungleichgewicht der Geschlechter dort beheben.

Die Siedlung besteht aus 790 Strafgefangenen, davon 190 Frauen, 13 Kinder der Verurteilten, 210 Marinesoldaten und Staatsbedienstete, 35 von ihnen haben Frauen und Kinder. „Ohne eine ausreichende Anzahl an Frauen ist es unmöglich, die Siedlung vor Regelverstößen und Ordnungswidrigkeiten zu bewahren“, schreibt einer der Verantwortlichen im Kolonialministerium. Die Ordnung sieht man dann als gefährdet an, wenn sich die Pioniere mangels Frauen dem eigenen Geschlecht zuwenden. Der Gouverneur von New South Wales, Arthur Phillip, hatte Schreckensszenarien im Sinn, als er drohte: „Jeder Mann, der dabei erwischt wird, wie er sich an einem Tier vergeht, soll nach Neuseeland geschickt und den Maoris zum Fraß vorgeworfen werden.“ Phillip will nicht auf diese Weise ein Gleichgewicht der Geschlechter herstellen. Deshalb schreibt er in einer Depeche nach London: „Die geringe Anzahl von Frauen macht die Entsendung zusätzlicher Kontingente absolut unabdingbar.“

Ein halbes Jahr lang liegt die „Lady Juliana“ in der Themse, um Frauen aus allen Gefängnissen des Königreichs aufzunehmen. Am 29. Juli 1789 macht sie sich auf den Weg Richtung Kanarische Inseln. John Nicol steht an der Reling und schaut. Gleich wird kein Land mehr zu sehen sein, gleich gelten nur noch das Meer und seine ungeschriebenen Gesetze. „Jeder Seemann auf der ‚Lady Juliana‘ darf sich“, schreibt die „Times“ im August, „für die Dauer der Reise eine Gefährtin aussuchen. Die Regierung hat vorsorglich

60 Garnituren Babywäsche mitgeliefert.“ John verzehrt sich nach Sarah. Und überlegt, was das eigentlich heißt: erst sie verspeisen, dann sich? Beide zugleich, wenn er sein Herz verschlingt, das Behältnis, worin er sie verwahrt hält?

Schwärze. Schwüle, die sich an der Decke niederschlägt und tropft, auf die Stirn. Sarah Whitlam zählt. Erst die Tropfen, dann die Tage, die ihr wohl noch bleiben, bis das Schiff über die Kante der Welt fällt, dann die Meilen hinab bis zum Meeresgrund. Sie gibt nichts auf das Geschwätz der anderen Frauen, der Betrügerinnen, der Diebinnen, der Liderlichen, die das Glück zu schätzen wissen, einen Schlafplatz zu haben und Essen. Das hier ist schon der Abgrund: das Unterdeck, das als Sträflingsunterkunft dient, aber auch als Ort der Verwahrung bei Manövern. Als alle Segel gesetzt sind und das Land außer Sichtweite ist, dürfen die Frauen nach oben. 30 Seeleute und sechs Offiziere warten schon. Die Frauen haben keine Wahl, und hätten sie eine, würden sie ohnehin keine andere treffen. Es geht um die Aussicht, hier unter den Raubeinen einen Beschützer an der Seite zu haben, die Aussicht auf eine weniger verlauste Koje, die Aussicht auf ein Glas Gin, die Aussicht auf ein paar Münzen. John Nicol stellt Sarah Whitlam noch mehr in Aussicht: Eine Woche lang macht er ihr den Hof und erzählt, sie zu heiraten und eines Tages nach England zurückzubringen. Sie erzählt ihm, niemals etwas gestohlen, sondern lediglich den Mantel einer Freundin ausgeliehen zu haben. Sarah Whitlam zieht in die Kabine von John Nicol, lange bevor die „Lady Juliana“ ablegt, lange bevor die anderen Auserwählten in die Kojen der Matrosen umsiedeln. Und sie ist bereits schwanger.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 31. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Dimitri Ladischensky

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur für Reisen und Genuss, forschte in Sachen Syphilis und stieß dabei auf die Geschichte der „Lady Juliana“. Er schrieb dann diese Reportage auf der Basis historischer Quellen, wie dem Reisetagebuch von John Nicol, alten Schifffahrtsregistern und dem Buch von Siån Rees Das Freudenschiff.

Mehr Informationen
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur für Reisen und Genuss, forschte in Sachen Syphilis und stieß dabei auf die Geschichte der „Lady Juliana“. Er schrieb dann diese Reportage auf der Basis historischer Quellen, wie dem Reisetagebuch von John Nicol, alten Schifffahrtsregistern und dem Buch von Siån Rees Das Freudenschiff.
Person Von Dimitri Ladischensky
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur für Reisen und Genuss, forschte in Sachen Syphilis und stieß dabei auf die Geschichte der „Lady Juliana“. Er schrieb dann diese Reportage auf der Basis historischer Quellen, wie dem Reisetagebuch von John Nicol, alten Schifffahrtsregistern und dem Buch von Siån Rees Das Freudenschiff.
Person Von Dimitri Ladischensky