Ein bisschen schwimmen in mare

Auf der Gründungsparty von mare vor 25 Jahren wünschte er dem Verleger scherzhaft „viel Erfolg – aber nicht zu viel“. Jetzt gratuliert der frühere langjährige „Geo“-Chefredakteur der kleinen Konkurrentin

Immer nur Meer? Ja. Obwohl man die Idee, als sie 1997 erstmalig zu 150 Magazinseiten wurde, für etwas exzentrisch halten konnte. Ein Schweizer, ausgestattet zwar mit allen Tauchscheinen, Segler, guter Schwimmer, studierter Meereskundler, erprobt in U-Boot-Fahrten, 34 Jahre alt, erschuf „mare“, die „Zeitschrift der Meere“. Und in Länge mal Breite mal Volumen seines Themas hatte dieser Nikolaus Gelpke ja recht: Rund 360 Millionen Quadratkilometer, mithin über 70 Prozent unseres Planeten, sind schließlich von Ozeanen und anderen Gewässern bedeckt, im Extrem sogar tiefer, als der Mount Everest hoch ist. Aber alle zwei Monate ein komplettes Heft so nahe ans Wasser zu bauen: Ein Wagnis war es doch.

Welpenschutz hatte das Projekt. Die großen Hunde der Branche bissen nicht zu, ganz gegen ihre sonstige Art. Sondern schmusten. Machten Komplimente. Nett, dieser an Feuchtbiotopen begeisterte Eidgenosse, aber verlegerischer Autodidakt und vielleicht auch ein bisschen verrückt? Denn, ja, „zwischen Ebbe und Flut fand Schöpfung statt“. Um Freiheit, Stille und Schwerelosigkeit konnte es gehen. Um Sehnsucht. „Und wie ich Dich liebe, Ozean“, hatte der Dichter Lord Byron ausgerufen. Und „Das Wasser ist das wahre Auge der Welt“, hatte ein anderer geschrieben. Um „Urinseln“ würde es gehen, um „lockende Fischfrauen“ und „goldbesternte Wellen­tiefen“. Um Nordmeerlandschaften, die „wie Aquarelle leuchten“. Um das Meer als „Erlösung von Schwermut und Ekel“, um das Tosen, Schäumen und Perlen. Um das Schwimmen „als Vermählung mit dem Ozean“. Aber bevor sie das noch alles lesen konnten in mare, staunten wohl all jene, die an ein schnelles Leerlaufen des Konzepts geglaubt hatten, über ein felsenfestes Titelthema schon in Heftnummer zehn.

WIE JETZT, DIE SCHWEIZ? 
Aber natürlich die Schweiz. Und zwar in mare! Denn erstens lagen die Alpen einst auf dem Grund des Urmeers Tethys, wovon versteinerte Seeigel, Korallen und Schildkröten zeugen. Zweitens speisen die in der Schweiz quellenden Rhône und Rhein, Tessin (via Po) und Inn (via Donau) diverse jetzige Meere. Drittens nahm schon Welten­umsegler Cook 1776 einen Schweizer Maler an Bord. Viertens gab es eine Zeit, in der europäische Geistesgeschichtler den Schweizer Bergbewohnern jene die Romantiker berauschende Zivilisationsferne bescheinigten, die sie auch in der Südsee sahen – seien die Menschen doch hier wie dort befreit von der „Tyrannei von Schande und Scham“, nur den Gesetzen der Natur unterworfen. Und deshalb fähig, sich ohne Scheu zu lieben. 

Fünftens: Es war ein Schweizer, Jacques Piccard, der mit der „Trieste“ in den Marianengraben getaucht war, auf knapp 11 000 Meter unter dem Meeresspiegel, tiefer als je ein Mensch zuvor. Sechstens: Die Schweiz verfügt über eine Handelsflotte. Siebtens baut sie die größten Schiffsmotoren. Und so weiter.

Seit mare dem „Homo helveticus oceanis“ einen Schwerpunkt gewidmet hat, dürfte also niemand mehr verwundert sein über die unerschöpfliche Fähigkeit der Redaktion, noch bei­nahe jedes Thema so nahe und originell wie möglich an die Wasserkante zu rücken. Küstenländer, -städte, Inseln sowieso; sie sind da ja schon. Aber wie kam der Obelisk von Ägypten nach Frankreich? Übers Meer. Und wie gelangte Buffalo Bill mitsamt nervöser Büffel zu seinen Bühnenshows in Europa? Übers Meer. Und wie fühlt sich der Mulch im Garten einer früheren Seefahrerin an? Als ginge man „auf den schwankenden Planken eines Schiffes“. Und was fanden Archäologen in der peruanischen Wüste? Das Skelett einer bisher unbekannten Walart mit 36 Zentimeter langen Zähnen. Und mit welchen Codenamen kommunizierten die gefangenen Mitglieder der Rote Armee Fraktion? Mit den Namen aus Melvilles „Moby-Dick“.

DIE INSEL 
Ringsherum das Rauschen der lauten und bunten Blätter, der Lärm des Infotainments, das Branden der Tagesnachrichten. Das will mare nicht übertönen. Will „Lese- und Genusszeitschrift“ sein. Und ist es auch. „Kulturzeitschrift“. Zurückgelehnt. Zeitlos. Eine Insel. Obwohl es schon ein wenig gewagt ist, hinter dem, was von der Gegenwart zu berichten ist, „zu 90 Prozent komplett irrelevante Meldungen“ zu vermuten, wie Nikolaus Gelpke in einem Interview von 2007. Er wird nicht behaupten, dass es unbedingt relevanter ist zu wissen, dass Krakenweibchen mit Steinen und Muscheln nach aufdringlichen Männchen werfen, der Schwertfisch 90 km/h schnell, der Mondfisch 120 Jahre alt werden kann. Dass Schwimmer im Panamakanal einst eine Gebühr zu bezahlen hatten, berechnet nach Körpergewicht. Und dass Japaner für ihr Mundgefühl beim Verzehr von Meeresgetier und anderen Köstlichkeiten 445 Beschreibungen haben.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 151. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 151

mare No. 151April / Mai 2022

Von Peter-Matthias Gaede

Peter-Matthias Gaede war Reporter bei „Geo“ und von 1994 bis 2014 dessen Chefredakteur. Er arbeitet als freier Autor und lebt in Hamburg.

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Vita Peter-Matthias Gaede war Reporter bei „Geo“ und von 1994 bis 2014 dessen Chefredakteur. Er arbeitet als freier Autor und lebt in Hamburg.
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