Ein amphibischer Weg

Der „Westcoast-Trail“ durch den Küstenurwald Kanadas diente einst zur Rettung Schiffbrüchiger

Ein kleiner Lauschangriff an diesem Ort, das wäre eine phantastische Idee. An der einen Stelle ist sie noch stramm gespannt, die Telefonleitung, wie am ersten Tag. Parallel zum schmalen, versumpften Urwaldpfad. Vom gläsernen Isolator des einen Mastes zwanzig Meter weiter zur verrosteten Aufhängung am nächsten, und sogar noch bis zum übernächsten, obwohl der schon reichlich schräg steht. Hinter einigen fünfzig, sechzig Meter hohen Sitkafichten dann die umgestürzten Bretterwände einer ehemaligen Fernmeldestation. Aufregend wäre es, dem Kupferkabel einige der dramatischen Dinge zu entlocken, die vor 100 Jahren hier durch den Dschungel gemorst wurden. Fast alle anderen Teilstücke im Verlauf der Trasse sind mittlerweile von der Urgewalt des Regenwaldes und der Elemente zerrissen und zertrümmert.

So entwickelt ist sie leider nicht, die Abhörtechnik, daß sie vergangene Worte wiederbeleben könnte. Heute wäre es sowieso zu laut, um feinen elektromagnetischen Signalen zu lauschen. Ungebremst seit dem Hawaii-Archipel nämlich donnern die Flutwellen des Nordpazifik gegen den Sandstein der kanadischen Steilküste, dreißig Meter unter dem Urwald, den verrottenden Masten und dem matschigen Pfad auf den Klippen. So heftig, daß der Gischt hinaufweht in den Regenwald, dessen Dickicht bis an die Kante heranwuchert. Und weil trübe Witterung herrscht, dröhnt auch noch das Nebelhorn von der Boje draußen im Meer. Sein basso continuo würde das filigrane Gesprazzel aller Drahtbotschaften übertönen, wären sie auch noch so entschlüsselt. Es regnet in Strömen. Die Stimmung heute ist unwirtlich am Westcoast-Trail.

Vor gut 90 Jahren hat die kanadische Küstenverwaltung den 70 Kilometer langen Weg als Seenotrettungspfad angelegt, der Leib und Leben Schiffbrüchiger bewahren sollte, die von südwestlichen Winden und Strömungen auf die Klippen gespült worden waren. Die Telefonleitung ist ein paar Jahre älter. Den Unglücklichen sollte so die Möglichkeit geboten werden, durch das undurchdringliche Dickicht wenigstens zum nächsten Indianerdorf zu gelangen. Oder über Draht Hilfe anzufordern.

Heute marschieren die Rettungsbedürftigen in die Gegenrichtung: Jahr für Jahr schleppen sich etwa 50 gescheiterte Rucksackträger mit gebrochenen Füßen, Beinen oder Armen von dem Urwaldpfad hinunter an die Küste, um die Aufmerksamkeit eines vorbeifahrenden Schiffes zu erheischen. So viele nämlich – von insgesamt 5000 Wanderern jährlich – verletzen sich durchschnittlich beim Versuch, den Westcoast-Trail freiwillig zu durchwandern, den „härtesten Trekkingpfad der Welt“, wie er im Prospekt genannt wird.

Unten, am Rand des Ozeans, verläuft eine ganz besondere Wasserstraße, die Juan-de-Fuca-Strait. Als Schiffsfriedhof des Pazifiks galt sie lange Zeit, scharfe auflandige Winde trieben vom Fischerboot bis zum Kohlendampfer alle Tonnage-Klassen auf die Felsen von Vancouver Island.

Silvesterabend 1895. Wie meistens zu dieser Jahreszeit drückt ein fulminanter Südsüdwestwind in die Juan-de-Fuca-Strait, als die stählerne Viermastbark „Janet Cowan“ um das Cape Flattery herum einfährt. Sie kommt, beladen mit Ballast, aus Kapstadt, um in British Columbia Nutzholz zu laden. Der Wind dreht, wird unberechenbar, bleibt aber auflandig, wird stärker. Dichter, schließlich jegliche Sicht raubender Schneesturm kommt auf. Der Kapitän der „Janet Cowan“ versucht mit seinen Männern verzweifelt, wieder die offene See zu erreichen. Vergebens. Das Donnern der Brandung wird für die Mannschaft hörbar, kommt näher, schließlich sind die Brecher und die Küste zu sehen.

Um 1.30 Uhr am Neujahrsmorgen kracht der Rumpf acht Kilometer hinter Pachena Point auf die Felsen vor der Küste. Die „Janet Cowan“ ist gescheitert.

Mit einer Hosenboje gelingt es der gesamten, 29 köpfigen Mannschaft, die Küste zu erreichen und ein Camp zu errichten. Sie teilt sich auf und versucht in beiden Richtungen, Hilfe zu organisieren. Was die Männer nicht wissen: Nur jeweils acht Kilometer entfernt sind die nächsten Indianersiedlungen Clo-oose im Südosten und Pachena im Nordwesten, doch beide sind sowieso unerreichbar. Dreißig Meter hohe Felsklippen und undurchdringlicher Wald verhindern nennenswertes Fortkommen. Der sieben Jahre zuvor durch den Urwald verlegte Telefondraht läuft heiß während der nächsten Tage, nachdem andere Schiffe das Unglück entdeckt haben. Doch Rettung von See aus ist wegen des Schneefalls, der Stürme und der Strömung unmöglich.

Am 5. Januar stirbt der Kapitän an Unterkühlung, der Schiffskoch und zwei Seeleute einen Tag später. Am 10. Januar werden 13 Überlebende, die es ein paar hundert Meter in nordwestlicher Richtung geschafft haben, von einem Schlepper aus Seattle gerettet. Der südöstliche Trupp muß noch ein paar Tage länger ausharren, bevor sich ein Schiff nah genug an die Küste heranwagen kann. Insgesamt überleben 22 Männer.

Erst zwei Jahre zuvor, im Januar, war der dampfgetriebene Schoner „Michigan“ nahe Pachena Point auf die Klippen aufgelaufen. Ohne Aussicht auf ein Fortkommen an Land harrte die Mannschaft an Bord aus, eine Handvoll Seeleute versuchte, sich entlang der Telegrafenleitung durch den dichten Urwald zu schlagen, um in Pachena Hilfe zu holen, wobei ein Mann erfror. Schiffsunglücke mit ähnlichen Folgeproblemen aufgrund der unzugänglichen Küste gab es um die Jahrhundertwende immer wieder, der Ruf des „Schiffsfriedhofs des Pazifiks“ kam auf. 1906 schließlich ereignete sich die größte Katastrophe.

Am 22. Januar dampft das Eisenschiff „Valencia“, mit 108 Passagieren und 65 Seeleuten an Bord, aus San Francisco auf dem Weg nach Victoria und Seattle in voller Fahrt auf einen Felsen, etwa in der Mitte zwischen Pachena und Clo-oose. Bei schwerer See und schlechter Sicht hatten Kapitän und Steuermann die Einfahrt der Juan-de-Fuca-Strait verpaßt. Alle Rettungsboote gehen verloren, eine Leine kann an die Küste geschossen werden, doch niemand ist in der Lage, zu der Unglücksstelle vorzudringen und die Leine zu befestigen. Daß die Nachricht über die Tragödie nach Victoria abgesetzt werden kann und über die Telefonleitung Hilfsaktionen besprochen werden, hilft in diesen stürmischen Wintertagen nichts. Zwei Tage später zerbricht das Wrack, viele Menschen werden ins Meer gespült, insgesamt sterben 136.

Noch im selben Jahr wurde der „Livesaving Trail“ entlang des Telefonkabels durch den Dschungel geschlagen. Leitern mit über 100 Sprossen halfen nun, knapp 50 Meter hohe Felsabstürze zu überwinden. Boardwalks (hölzerne Laufstege) ermöglichten es, größere Sumpfareale zu bewältigen, an Tauen konnte sich der Schiff- brüchige – und kann sich heute der Wanderer – an Steilstrecken hochziehen. Die 70 Kilometer von Port Renfrew nach Bamfield, jene Etappe der Steilküste also, die die Schiffe gleich einem riesigen Magnet anzog, sind seither begehbar. Es blieb ein beschwerlicher Weg.

Einst angelegt, um den Schiffbrüchigen aus ihrer Not zu helfen, dient der Westcoast-Trail heute als Fluchtweg aus der Zivilisation, auf dem man sich ohne Not für mindestens eine Woche, je nach Kondition, in Not begeben kann. In den 60er Jahren mußte er zusammen mit dem ihn umgebenden Urwald vor profithungrigen Holzeinschlagsfirmen gerettet werden. Damit auch der geübte Wanderer sich heute über weite Strecken mit Geschwindigkeiten von weniger als einen Kilometer pro Stunde voranplagen darf. Abgesehen von den Boardwalks, den „Autobahnabschnitten“ des Trails, auf denen er Kilometer fressen kann, darf er sich die meisten Minuten und Stunden durch tiefen sumpfigen Boden quälen und dabei aufpassen, daß die Schuhe am Fuß bleiben, er muß neben eingestürzten Brücken durch und über Bäche waten und hangeln, auf haushohen, morschen Leitern mit verfaulten oder zerbrochenen Sprossen allen Mut zusammennehmen. Und auf runden, glitschigen Baumstämmen über tiefen Abgründen auf den Beistand des Großen Manitu hoffen.


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mare No. 9

No. 9August / September 1998

Eine Reportage von Ulli Kulke und Gebhard Krewitt

Ulli Kulke ist stellvertretender Chefredakteur von mare.

Gebhard Krewitt ist Mitglied der Fotoagentur Visum und lebt in Hamburg

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Vita Ulli Kulke ist stellvertretender Chefredakteur von mare.

Gebhard Krewitt ist Mitglied der Fotoagentur Visum und lebt in Hamburg
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