Durch Raum und Zeit

Wer an Belgiens Küste entlangfährt, wird über manche Sünde der Architekten fluchen – und einiges über den Wandel der Zeit lernen

Endstation Knokke. Eine Straßenbahn in aller Moderne, mit bunter Werbung beklebt, aerodynamisch gerundetes Glas vor dem Fahrer. Endstation ist Grenzstation, ein paar Häuser noch, dann kommt Holland. Hier aber ist Belgien. Ein Casino gibt es in Knokke, ein Museum für moderne Kunst, eine Schmetterlingsvoliere. Diese Stadt an der Nordsee hat etwas zu bieten, vor allem monumentale Blöcke, in denen all die Menschen wohnen, die durch die Stadt quirlen.

Die Tram fährt los, eine 67 Kilometer lange Reise, 132 Minuten dem Meer entlang. Am Ende wartet wieder eine Endstation = Grenzstation; dort aber ist dann Frankreich hinter den letzten Häusern.

Wie viel Hässlichkeit erträgt ein Landstrich? Ein Haus mit solch spitzem Dach, dass es einer Kinderzeichnung entsprungen sein könnte, ein dreidimensionaler schlechter Witz, nicht der erste und wohl nicht der letzte. Die Fertigvillen mit ihren hellen Ziegeln sind trostloser als die Apartmenthäuser; lackierte Zäune, kurzer Rasen, Ordnung, Leere. Betuchte Langeweile, die an öde Sommersonntage in den gehobenen Vororten der westlichen Welt erinnert, an Berlin-Steglitz oder die amerikanischen Suburbs, an blank geputzte Autos vor Garageneinfahrten, an Glück, das den Tod zu verscheuchen glaubt, an Lügen, Betrügen, an das Fremdgehen, an all die Sehnsüchte unzähliger Biografien.

Kein Verbrechen, das ausgelassen wurde; zu sehen sind Schändungen an der Architektur. Plötzlich, hinter einer Kurve, zehngeschossige Häuser mit voluminösen Giebeldächern. Welcher Baustadtrat konnte das bewilligen? Wer hat wen bestochen, vor 25 Jahren?

Hochhäuser, auf Chalets getrimmt, ihres eigentlichen Charakters beraubt. Ist denn Belgien ein Land ohne Architekten? Glänzte hier nicht einmal ein mondänes Leben? Gab es nicht die Bäderarchitektur, Art déco? Hat hier nicht Magritte gemalt und Keith Haring?

Haltestelle, eine von 70 auf dieser Strecke. Zeebrücke-Manitoba. Was will uns das Zitat aus dem fernen Kanada sagen? Die nackte Blondine auf der übergroßen Plakatwand weiß es auch nicht. Aus ihr wuchern sechs Brüste, und sie stillt drei Babys. Marketing pervers. Die Wölfin im glattweißen Frauenkörper wirbt für eine Matratze. Niemand schaut hin.

Ein Kanal, eine Brücke, rechter Hand tut sich das Meer auf, eine Hafeneinfahrt mit Englandfähren, ein antikes russisches U-Boot, von zwei Kindern bestaunt. Unten das Hotel „Palace“: „Te koop.“ So vieles ist hier zu kaufen. Auch das „Grand Hotel Palace“. Solange es keiner haben will, sitzt ein Mann in rotem Trainingsanzug vor einem Fernseher im Erdgeschoss und bewacht den 100-Zimmer-Kasten, dessen Fassade wegen der salzigen Luft zerbröselt. Gießt Pflanzen, die mitverkauft werden sollen. Und isst Chips. Dünen bis an die Promenade, Hasenkötel überall.

Ein Mensch steigt ein, wenige stehen, ein paar sitzen mit Tüten zwischen den Beinen, die Bahn legt an Geschwindigkeit zu, das graue Meer blitzt zwischen den Häusern durch. An einer halb leer gebombten Straßenecke ein chinesischer Imbiss in einem zweistöckigen Haus, Verzierungen aus Leuchtstoffröhren, daneben ein Gemüseladen, wieder Schnörkel aus Leuchtstoffröhren, noch ohne Licht. Kabel hängen über der Straße, über den Gleisen, baumeln im Wind. Bekannte Bilder, Bilder von Orten an der amerikanischen Ostküste, im Gedächtnis verfestigt. Edward Hopper. Warum nur immer diese Gedanken an andere Welten, andere Plätze? Eine eigentümliche Identitätslosigkeit in diesem Land.

Blankenberge. Berge gibt es hier in der Tat, Berge von Hochhaussiedlungen mit Fenstern zum Meer hinaus, direkt vor die Gründerzeitvillen gestellt. Die Villen starren jetzt auf die Hinterteile der Betonplatten, wie abgebrochene Zacken eines Kamms, wenn denn der Griff die Hochhäuser wären. Mietshäuser, Hotels, Hunderte winziger Wohnungen, aufeinander getürmt, ineinander verschachtelt, immer am Strand entlang gereiht und gestapelt. Sie müssen sich geärgert haben, die Villenbesitzer, als ihnen die Betonriegel vor die Nase gebaut wurden in den siebziger Jahren. Zwischen den schnörkellosen Riesen ein renitentes Giebelhäuschen, das nicht weichen wollte.

Schicht um Schicht entwickelt sich dieser Küstenabschnitt: das Meer, der Strand, die Promenade, die Hochhäuser, die Villen, die Straßenbahn. Manchmal ändert sich die Reihenfolge, und die Straßenbahn liegt zwischen Strand und Promenade oder zwischen Promenade und Hochhausreihe. Als ob es Seile wären, die 67 Kilometer lang um die beste Lage ziehen und kämpfen würden, Schnüre aus Metall oder Beton oder Sand.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 50. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Zora del Buono und Andrew Testa

Zora del Buono, stellvertretende mare-Chefredakteurin, hat an der ETA Zürich Architektur studiert und lebt in Berlin; ihre letzten beiden Reisen haben sie nach Istanbul und Kapstadt geführt.

Der britische Fotograf Andrew Testa ist für mare zuletzt in Saudi-Arabien und Thailand gewesen. Beide waren sich einig, dass sie noch nie eine bizarrere Gegend wie die belgische Küste gesehen haben. Und doch wurden ihnen die Geschmacklosigkeiten entlang der Straßenbahnlinie im Lauf der Zeit immer sympathischer.

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Vita Zora del Buono, stellvertretende mare-Chefredakteurin, hat an der ETA Zürich Architektur studiert und lebt in Berlin; ihre letzten beiden Reisen haben sie nach Istanbul und Kapstadt geführt.

Der britische Fotograf Andrew Testa ist für mare zuletzt in Saudi-Arabien und Thailand gewesen. Beide waren sich einig, dass sie noch nie eine bizarrere Gegend wie die belgische Küste gesehen haben. Und doch wurden ihnen die Geschmacklosigkeiten entlang der Straßenbahnlinie im Lauf der Zeit immer sympathischer.
Person Von Zora del Buono und Andrew Testa
Vita Zora del Buono, stellvertretende mare-Chefredakteurin, hat an der ETA Zürich Architektur studiert und lebt in Berlin; ihre letzten beiden Reisen haben sie nach Istanbul und Kapstadt geführt.

Der britische Fotograf Andrew Testa ist für mare zuletzt in Saudi-Arabien und Thailand gewesen. Beide waren sich einig, dass sie noch nie eine bizarrere Gegend wie die belgische Küste gesehen haben. Und doch wurden ihnen die Geschmacklosigkeiten entlang der Straßenbahnlinie im Lauf der Zeit immer sympathischer.
Person Von Zora del Buono und Andrew Testa