Durch die Ostsee in den Westen

Was sich DDR-Bürger, die übers Meer flüchten wollten, alles einfallen ließen

Über dem Ostseebad Graal-Müritz war die Nacht zum 9. September 1968 sternenklar. Tosend stürzte die Brandung an den Strand. Bernd Böttger aus Sebnitz bei Dresden trug bereits seinen Neoprenanzug. Er sah aufs Meer, der hohe Seegang beunruhigte ihn. Fünf Jahre lang hatte er auf diese Nacht hingearbeitet, ein gescheiterter Fluchtversuch mit acht Monaten Gefängnis lag hinter ihm. Diesmal mußte es klappen. Er zog Flossen an, setzte Neoprenhaube, Taucherbrille und Schnorchel auf, streifte Handschuhe über. Ruhig, aber bestimmt nahm er seinen Unterwassermotor unter den Arm und watete in die See. Er warf den Motor an, griff den Bügel und ließ sich ins Wasser gleiten. Mit leisem Brummen zog ihn die Maschine hinaus aufs Meer. Sein Ziel: Gedser in Dänemark.

Für den ausgeprägten Individualisten Böttger, damals 28 Jahre alt, waren Konfrontationen mit dem DDR-Regime seit langem programmiert. Nach dem Rausschmiss aus der Ingenieurschule Magdeburg blieb für ihn die Flucht der einzige Ausweg. Aber die Mauer fürchtete er. Zu viele waren dort durch Schüsse gestorben. Bernd Böttgers Weg in die Freiheit sollte über die Ostsee führen.

In seiner Kellerwerkstatt war dem Tüftler die Idee gekommen: Er wollte sich von einem Antrieb etwa einen Meter unter der Wasseroberfläche voranziehen lassen. Dazu besorgte er sich einen Zweitaktmotor. Auf die Kurbelwelle setzte er ohne Getriebe einen selbstgebauten Propeller. Mit Glasfaser und Polyesterharz dichtete er den Motor ab. Als Tank baute er einen 40 Zentimeter langen, torpedoähnlichen Fieberglasbehälter und verband ihn mit dem Motor. Die Luftzufuhr für den Vergaser sicherte er durch einen Schnorchel, den er durch den Tank führte. Am Gehäuse montierte er einen Haltegriff. Zu diesem Bügel führte er einen Bowdenzug, um den Motor unter Wasser bedienen zu können.

Stundenlang war Böttger unterwegs in der Wasserwüste. Ab und zu tauchte er auf und sah sich nach Verfolgern um. Wie die alten Seefahrer orientierte er sich nach den Sternen. Gegen Mitternacht hörte der einsame Flüchtling Motorengeräusche, die schnell lauter wurden. Unbändige Angst überfiel ihn, heftige Magen- und Darmkoliken machten ihm schlimm zu schaffen. Böttger musste auftauchen. Entsetzt sah er die schwarzen Umrisse eines auf ihn zufahrenden Küstenwachbootes. Er zwang sich zur Ruhe. Das Patrouillenboot kam näher. Böttger tauchte wieder ab, schaltete den Motor aus und schwamm unter Wasser langsam weiter. Das Wachboot fuhr dicht an ihm vorbei. Schließlich wurde das Motorengeräusch leiser und verstummte. Lange wagte es der Schwimmer nicht, wieder aufzutauchen. Langsam kehrten die Kräfte zurück. Bernd Böttger war wieder allein und startete den Motor. Als er zur Orientierung auftauchte, sah er am Horizont Lichter – die ersehnte Freiheit war nahe. Um 4 Uhr erreichte er das dänische Feuerschiff „Gedser Rev“, das auf halbem Weg vor Gedser lag. Wenig später kletterte Bernd Böttger mit Hilfe der Crew an Bord.

Böttgers Erfindung beurteilte wenig später Professor F. Müller von der Technischen Universität Berlin als „so umwälzend wie das Moped oder der Taucheranzug, oder besser: wie beides zusammen“. Von einer norddeutschen Firma wurde Böttgers Mini-U-Boot als Aqua-Scooter zur Serienreife weiterentwickelt. Aus James-Bond-Filmen kennt ihn inzwischen alle Welt. Ständig war Böttger unterwegs, um Geräte zu testen, konnte sein neues Leben genießen. Da ereignete sich am 27. August 1972 die Tragödie: Von einem Tauchgang vor dem kleinen spanischen Ort Cala Jonculs nahe Rosas kehrte er nicht lebend zurück. „Bernd Böttger ist vermutlich beim Ausprobieren von Tauchapparaten ertrunken“, hieß es im offiziellen Untersuchungsbericht der spanischen Behörden. Doch Bernd Böttgers Familie vermutet Mord durch die Staatssicherheit. Auch nach der Wende konnte der mysteriöse Tod nicht aufgeklärt werden.

Nach dem Willen der damaligen DDR-Führungsspitze hätte Böttger erst gar nicht so weit kommen dürfen. Sie setzte alles daran, um eine „Republikflucht“ über die lockende Meeresfläche unmöglich zu machen. Dabei schien die Ostseeküste der einstigen DDR zunächst eine Küste wie in jedem anderen Land der Welt zu sein. Erst auf den zweiten Blick offenbarten sich krasse Unterschiede: Segler, Surfer und andere Wassersportler fehlten an der offenen Seeküste, dicke Ketten sicherten die wenigen Rettungsboote vom Deutschen Roten Kreuz, Grenzposten patrouillierten, Wachtürme und riesige Scheinwerfer am Strand verbreiteten eine unheimliche Atmosphäre. An der Ostseeküste des heutigen Mecklenburg-Vorpommern stand 28 Jahre lang eine „unsichtbare Mauer“. Die Freiheit der Meere – in der DDR gab es sie nicht.

Nachdem 1961 in Berlin der „Eiserne Vorhang“ gefallen war, wurde auch im Binnenland die Grenze errichtet und jedes Fleckchen Wasser ummauert, das die Westgrenze tangierte. Doch an der Ostseeküste konnte die DDR-Führung keine Mauer bauen lassen. Die Lüge von der „DDR als weltoffenem Land“ wäre zu offensichtlich gewesen. Die Küste sollte frei und offen scheinen. Doch der Schein trog.

Von der Lübecker Bucht im Westen bis zur Pommerschen Bucht im Osten musste eine mit allen Windungen 602 Kilometer lange, stark zergliederte Außenküste mit ihren Buchten, Bodden und Wieken möglichst unsichtbar abgeschottet werden. Aber das gelang nicht überall. Den westlichsten Zipfel der Seegrenze – von der Halbinsel Priwall bis zum Dorf Brook – riegelten 13 000 Meter hermetisch dichter Stacheldraht nach Berliner Vorbild ab. Den Bewohnern der Küstenorte Pötenitz, Rosenhagen, Barendorf, Groß Schwansee und Brook wurde dabei der Zugang zum Meer buchstäblich vermauert.

Zuständig für die Bewachung der Ostseeküste war die 6. Grenzbrigade Küste, eine Einheit der Volksmarine. Die „Sicherung der Seegrenze“ war in erster Linie gegen den „Feind“ von innen gerichtet: gegen Flüchtlinge. Im SED-Jargon hießen sie „Grenzverletzer“ oder „Grenztäter“, die Flucht wurde als „Angriff auf die Seegrenze der DDR“ oder „Grenzdurchbruch“ bezeichnet. Es galt der Schießbefehl.

Das „Grenzgebiet“ begann schon etwa fünf Kilometer südlich der Küste. Die 6. Grenzbrigade Küste kooperierte dort eng mit Staatssicherheit, Volkspolizei, Transportpolizei (Trapo) und einem Heer ziviler Spitzel, die gemeinsam ein dichtes Netz der Beobachtung geknüpft hatten. Im Visier standen Einheimische: Urlauber und Wassersportler mit Surfbrettern, Schlauch- oder Paddelbooten. Die Stasi schnüffelte in Gepäck und Post herum, die Trapo durchsuchte die Züge nach „Verdächtigen“, Platzwarte spitzelten auf Campingplätzen, freiwillige Helfer beobachteten Parkplätze, Ferienheime und den Strand. Die meisten Flüchtlinge blieben in den Maschen des Netzwerks hängen, bevor sie überhaupt das Wasser erreichten.

Doch das genügte noch nicht. Mitte der siebziger Jahre wuchsen 38 Beobachtungstürme an der Küste empor, sichtbares Symbol der Unfreiheit an der Ostsee. Ausgerüstet mit Suchscheinwerfern und später auch mit Radargeräten, observierten die Grenzer das Wasser rund um die Uhr. Die technischen Beobachtungskompanien verfügten über spezielle Funkmesstürme, mit denen der Schiffsverkehr auf der Ostsee überwacht und nach Flüchtigen gesucht wurde. Die Lücken zwischen den Beobachtungs- und Funkmesstürmen füllten mobile Suchscheinwerfer. Mit einer Reichweite von 18 Kilometern dienten sie vor allem der psychologischen Abschreckung: Flüchtlinge sollten sich noch weit draußen auf See beobachtet fühlen und ihr Vorhaben von vornherein aufgeben.


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mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Christine Vogt-Müller

Ausreisegrund? „Wir planen eine Weltumseglung.“ Nachdem die Museumspädagogin Christine Vogt-Müller mit ihrem Mann Bodo 1986 in Rostock einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt hatte, wurden die beiden von den “Staatsorganen“ für verrückt erklärt. Wegen vermuteter Fluchtgefahr durfte das passionierte Seglerpärchen seit 1980 die DDR nicht mehr verlassen. Zwei Jahre zuvor hatten die beiden während einer abenteuerlichen Donaufahrt in einer Faltboot-Jolle das Schwarze Meer erreicht, waren aber dennoch in die DDR zurückgekehrt. Erst sechs Wochen vor dem Mauerfall 1989 genehmigten die Behörden schließlich der hartnäckigen Rostocker Familie die Ausreise. Unter dem Titel Über die Ostsee in die Freiheit (1992) dokumentierten beide die zahlreichen Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die Ostsee. Christine Vogt-Müller arbeitet heute als Journalistin in Travemünde

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Vita Ausreisegrund? „Wir planen eine Weltumseglung.“ Nachdem die Museumspädagogin Christine Vogt-Müller mit ihrem Mann Bodo 1986 in Rostock einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt hatte, wurden die beiden von den “Staatsorganen“ für verrückt erklärt. Wegen vermuteter Fluchtgefahr durfte das passionierte Seglerpärchen seit 1980 die DDR nicht mehr verlassen. Zwei Jahre zuvor hatten die beiden während einer abenteuerlichen Donaufahrt in einer Faltboot-Jolle das Schwarze Meer erreicht, waren aber dennoch in die DDR zurückgekehrt. Erst sechs Wochen vor dem Mauerfall 1989 genehmigten die Behörden schließlich der hartnäckigen Rostocker Familie die Ausreise. Unter dem Titel Über die Ostsee in die Freiheit (1992) dokumentierten beide die zahlreichen Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die Ostsee. Christine Vogt-Müller arbeitet heute als Journalistin in Travemünde
Person Von Christine Vogt-Müller
Vita Ausreisegrund? „Wir planen eine Weltumseglung.“ Nachdem die Museumspädagogin Christine Vogt-Müller mit ihrem Mann Bodo 1986 in Rostock einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt hatte, wurden die beiden von den “Staatsorganen“ für verrückt erklärt. Wegen vermuteter Fluchtgefahr durfte das passionierte Seglerpärchen seit 1980 die DDR nicht mehr verlassen. Zwei Jahre zuvor hatten die beiden während einer abenteuerlichen Donaufahrt in einer Faltboot-Jolle das Schwarze Meer erreicht, waren aber dennoch in die DDR zurückgekehrt. Erst sechs Wochen vor dem Mauerfall 1989 genehmigten die Behörden schließlich der hartnäckigen Rostocker Familie die Ausreise. Unter dem Titel Über die Ostsee in die Freiheit (1992) dokumentierten beide die zahlreichen Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die Ostsee. Christine Vogt-Müller arbeitet heute als Journalistin in Travemünde
Person Von Christine Vogt-Müller