Dosen und andere Chosen

Ein kleines Restaurant in Lissabons Altstadt huldigt einer urportugiesischen Tradition: der Konservierung von Fisch in Dosen. Die ­Zutaten seiner Gerichte stammen allesamt aus dem Weißblech

Da, wo früher Rollen und Haken waren, sind jetzt Dosen. Gelbe Dosen, rote Dosen, grüne Dosen, blaue Dosen. Aufrecht, liegend, gestapelt, gereiht, wie die Bauklötze einer Spielstadt. Henrique Vaz Pato liebt Ordnung. Der 45-jährige Wirt ist eigentlich Architekt. Er ist einer von 25 000 in Portugal. Von denen es einige zu viel gibt. Deshalb reiht er seit zwei Jahren Dosen in der langen Vitrine seines Lokals „Sol e Pesca“ auf. Nicht nur das. In dem ehemaligen Anglergeschäft baut er Häppchen aus Fischkonserven. Die Spielereien bringen Geld, mehr als das Architektendasein in einem derzeit paralysierten Land.

Seine kleinen Gerichte setzen Trends. Sie kosten zwischen vier und sechs Euro und verführen zweimal: weil sie schön und weil sie lecker sind. Er kombiniert Geschmack, Farbe und Textur vom Land und vom Meer: in Moscatelwein eingelegte Anchovis (dunkelviolett) mit Ziegenkäse (weiß) und frischem Thymian (graugrün). Oder Thunfischschinken (weinrot), reifer Kuhmilchkäse (dunkelgelb), kandierte Feigen (rotbraun), grasgrüne Minze. Viele Rezepte stammen aus dem Süden Portugals, wo es so heiß ist, dass Fisch sofort konserviert werden muss. Andere erfindet er selbst und nennt sie desafío, Herausforderung. Der Fisch kommt vor allem von den Azoren, die weit draußen im Atlantik liegen, wo das Meer sauber ist.

„Die goldene Ära der Fischkonserve war in den 1950er und 1960er Jahren, danach wurde ihr Ruf schlecht“, sagt Vaz Pato in leisem Ton. Der gepflegte Mann inszeniert das Revival des Arme-Leute-Essens im ehemaligen Rotlichtviertel von Lissabon, in der Nähe des Bahnhofs Cais do Sodré, wo auch die Fähren über den Tejo anlegen.

In der schmalen, langen Bar herrscht von Mittag bis zum Morgengrauen Leben. An der Decke hängen noch die originalen Reusen, Angelruten klemmen an der Wand, in einem Regal stehen dicke Spulen mit grüner Nylonschnur. „Der Vorbesitzer hatte eines Tages die Rollläden heruntergezogen und war verschwunden“, erzählt Vaz Pato. „Als ich die Bar aufmachte, musste ich erst einmal seine Post entsorgen.“ Für einen Architekten hat er sich bei der Innenausstattung sehr zurückgehalten. Nur die Tische und Stühle und die Dosen in der Vitrine hat er dazugefügt.

Man kann die Konserven auch so kaufen, ungeöffnet, und zu Hause eines der mehr als 100 Rezepte ausprobieren, die Henrique Vaz Pato gerade in seinem Buch „Sol & Pesca“ publiziert hat. Eine Dose Sardinen gibt es ab 1,40 Euro. Mit goldenen Ranken und vollmundigen Frauengesichtern erzählen sie von Zeiten, als portugiesische Fischkonserven als Delikatesse nach Frankreich und Großbritannien exportiert wurden. Und mit Flugzeugschwadronen auf dem Weißblechdeckel erinnern sie daran, dass sie während des Zweiten Weltkriegs deutsche Soldaten an der Front ernährten.

20 Fischfabriken, conserveiras, gibt es in Portugal noch. Sie produzieren Marken, die Santa Catarina, Catraio oder Minerva heißen. Sie dosen Thun, Kabeljau, Sardinen oder Makrelen ein, in Lissabon, auf den Azoren, bei Coimbra oder Porto.

Vaz Pato hat mehr als 100 verschiedene Konserven im Sortiment. Seine Lieferanten besucht und testet er. Die Verarbeitung und der Fang machen die Qualität aus. „Ein guter Dosenfisch zerfällt nicht, wenn man ihn aus dem Öl nimmt“, erklärt er. Frisch gefangen, werden die Fische als Ganzes in Salzlauge eingelegt, dann gesäubert, kurz erhitzt, von Hand in die Dose geschichtet, danach luftdicht verschlossen – fertig ist die Fischkonserve. „Auf keinen Fall einfrieren und nicht zu lange erhitzen“, sagt Vaz Pato, „sonst werden die Fische brüchig.“

Viele Dosen ziert das blaue MSC-Label, das nachhaltige Fischerei zertifiziert. „Portugiesische Konserven kosten zwar mindestens doppelt so viel wie die asiatischen“, sagt Vaz Pato, „aber sie halten fünf Jahre und sind einfach köstlich.“

Seit der Architekt Konservenkost serviert, läuft das Geschäft bei den conserveiras besser. Sie bekommen mehr Aufträge. Schon gibt es Nachahmer in der Stadt, und manche Lissabonner nehmen sich wieder ein Ölsardinenbrötchen mit zur Arbeit, anstatt mittags essen zu gehen. Sie haben erkannt: In der Konserve steckt nicht nur ein Fisch, sondern auch das gute Leben von früher.

Anchovis mit Apfel

Zutaten (für 4 Personen)

2 Dosen mit jeweils 125 Gramm Anchovis, in Olivenöl eingelegt, 4 mittelgroße Äpfel, kaltgepresstes Olivenöl, 1 Bund Schnittlauch, 1 Orange, Flor de sal (Fleur de sel).

Zubereitung

Die Äpfel schälen und in Scheiben schneiden. Auf einem Teller anrichten und mit Flor de sal bestreuen. Die Fischfilets auf die Apfelscheiben legen. Den Saft der Orangen und Olivenöl darüber träufeln und mit klein gehacktem Schnittlauch bestreuen. Statt der Anchovis kann man auch kleine Ölsardinenfilets verwenden. Dazu passt Baguette.


Sol e Pesca, Rua Nova do Carvalho, 44, Lissabon,

Tel. +351 213 467 203; täglich geöffnet von 12 Uhr mittags bis 4 Uhr früh.

mare No. 104

No. 104Juni / Juli 2014

Von Brigitte Kramer und Annett Bourquin

Brigitte Kramer, 1967 in München geboren, lebt seit vielen Jahren in Spanien, fast ihr halbes Leben. 
 Als sie Ende der 80er Jahre als Praktikantin in Barcelona ankam, wunderte sie sich darüber, dass es dort auch rothaarige Menschen gibt. Seitdem beobachtet und erlebt sie den Wandel des Landes und schreibt darüber für deutsche und spanische Zeitungen und Magazine. Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Deutschen Journalistenschule in München. Später lebte und arbeitete sie zunächst als Stipendiatin der Süddeutschen Zeitung in Madrid, wo sie freiberuflich arbeitete, eine Kulturzeitschrift herausgab und Medienarbeit für Musiker machte. Seit neun Jahren ist sie nun auf Mallorca verwurzelt. Das Leben auf einer Insel findet sie sehr bereichernd: Anstatt in die Ferne zu schweifen, ist man gezwungen, in die Tiefe zu gehen. Als Autorin schürft sie am liebsten nach Geschichten, die ihr die Welt erklären, wie sie ist und wie sie war: Geschichte, Gesellschaft, Reise und Kultur sind ihre liebsten Ressorts.

Mehr Informationen
Vita Brigitte Kramer, 1967 in München geboren, lebt seit vielen Jahren in Spanien, fast ihr halbes Leben. 
 Als sie Ende der 80er Jahre als Praktikantin in Barcelona ankam, wunderte sie sich darüber, dass es dort auch rothaarige Menschen gibt. Seitdem beobachtet und erlebt sie den Wandel des Landes und schreibt darüber für deutsche und spanische Zeitungen und Magazine. Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Deutschen Journalistenschule in München. Später lebte und arbeitete sie zunächst als Stipendiatin der Süddeutschen Zeitung in Madrid, wo sie freiberuflich arbeitete, eine Kulturzeitschrift herausgab und Medienarbeit für Musiker machte. Seit neun Jahren ist sie nun auf Mallorca verwurzelt. Das Leben auf einer Insel findet sie sehr bereichernd: Anstatt in die Ferne zu schweifen, ist man gezwungen, in die Tiefe zu gehen. Als Autorin schürft sie am liebsten nach Geschichten, die ihr die Welt erklären, wie sie ist und wie sie war: Geschichte, Gesellschaft, Reise und Kultur sind ihre liebsten Ressorts.
Person Von Brigitte Kramer und Annett Bourquin
Vita Brigitte Kramer, 1967 in München geboren, lebt seit vielen Jahren in Spanien, fast ihr halbes Leben. 
 Als sie Ende der 80er Jahre als Praktikantin in Barcelona ankam, wunderte sie sich darüber, dass es dort auch rothaarige Menschen gibt. Seitdem beobachtet und erlebt sie den Wandel des Landes und schreibt darüber für deutsche und spanische Zeitungen und Magazine. Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Deutschen Journalistenschule in München. Später lebte und arbeitete sie zunächst als Stipendiatin der Süddeutschen Zeitung in Madrid, wo sie freiberuflich arbeitete, eine Kulturzeitschrift herausgab und Medienarbeit für Musiker machte. Seit neun Jahren ist sie nun auf Mallorca verwurzelt. Das Leben auf einer Insel findet sie sehr bereichernd: Anstatt in die Ferne zu schweifen, ist man gezwungen, in die Tiefe zu gehen. Als Autorin schürft sie am liebsten nach Geschichten, die ihr die Welt erklären, wie sie ist und wie sie war: Geschichte, Gesellschaft, Reise und Kultur sind ihre liebsten Ressorts.
Person Von Brigitte Kramer und Annett Bourquin