Dieses Meer hört nicht auf, unsere Welt zu sein

Mathias Bothor, einer der führenden Porträtfotografen unserer Zeit, machte sich während vier Jahren an das Abbild des Mittelmeers. Er fand es in den Gesichtern seiner Küstenbewohner. Ihre Bilder versammelt der neue mare-Bildband

Ich war von Triest nach Pula gekommen. In Triest, der Stadt von Italo Svevo, James Joyce, Umberto Saba und Claudio Magris, hatte ich in einem Antiquariat eine alte Ausgabe des Baedekers von 1934 gefunden, die schlicht und anmaßend „Mittelmeer“ heißt. Dieser Führer prahlt – zu Recht – „mit 43 Karten und 46 Plänen“, wobei unter diesen Plänen sehr detaillierte Stadtpläne zu verstehen sind. Marseille, Granada, Genua, Venedig, Neapel, Beirut, Jaffa und Tel Aviv – alle bieten sich dar. So fand ich auch einen Plan von Syrakus und von Ortigia, machte die Piazza Minerva ausfindig entlang des Doms und die Via della Giudecca, in der ich wohne.

Aber es sind die scharf gestochenen Karten, mit ihrem blassblauen und bald dunkleren Meer und den Aberhundert Namen entlang der Küstenlinie, die einen – wie heute genau durchkomponierte Fotografien – ins Träumen bringen. Sofort will man unter­wegs sein, möglichst auf einem Schiff, und an diesen Küsten, Ab­gründen, Halbinseln und Inseln entlangschippern, durch all die­ses Blau. Wohl auch deshalb legt der Baedeker das größte Ge­wicht auf Seewege und Hafenplätze. Vor jedem Kapitel, das eine Hafenstadt vorstellt, gibt es einen Abriss, der die Schiffsagenturen auflistet und die Dampferlinien angibt, die alle Meeresstädte miteinander verbinden. Von Triest nach Konstantinopel dauerte es mit dem Dampfschiff knappe zehn Tage. Es ist ein Jammer, dass diese Schifffahrt, so charakteris­tisch für dieses Meer über Jahr­tausende, durch den Luftverkehr fast völlig ersetzt wurde. Schon in der Odyssee hatte Homer, die Zyklopen ob ihrer Unwissenheit tadelnd, die Vorzüge der Schifffahrt gepriesen:

Denn es gebricht den Zyklopen an rotgeschnäbelten Schiffen, auch ist unter dem Schwarm kein Meister, kundig des Schiffbaus, schöngebordete Schiffe zu zimmern, dass sie mit Botschaften zu den Völkern der Welt hin wandelten, wie sich so häufig Menschen über das Meer in Schiffen einander besuchen.

Diese Besuche finden heute fast nur noch mit dem Auto über Landwege oder mit dem Flugzeug statt. Sieht man von den monströsen Kreuzfahrtschiffen ab, so wird der Massentourismus über den Luftverkehr abgewickelt. Die Passagierschifflinien können an zwei Händen abgezählt werden. So kann man von Venedig über Dubrovnik nach Piräus fahren, von Mersin nach Famagusta, von Genua nach Cagliari und von Neapel nach Palermo. Und es gibt natürlich den Fährverkehr zwischen nahen Küsten, von Messina zu den Äolischen Inseln zum Beispiel, und wenn man Glück hat, gibt es auch eine Fähre von Trapani nach Tunis in den Sommermonaten. Erst auf dem Wasser, sich langsam einem Hafen nä- hernd unter einem weiten grenzenlosen Himmel, werden wir uns bewusst, dass dieses Meer, das einst die Welt war, nicht aufhört, unsere Welt zu sein.

Sind wir an diesem Meer, so sind wir zugleich in Athen, wo es genügend freie Geister gab, um das Wissen nicht mehr mit den Geschäften der Götter zu verbinden, und der Mensch lernte, seine Sprache zu vermessen. Sind wir auf diesem Meer, so bewegen wir uns auf den alten Handelsrouten der Gewürze und Spezereien. Wir halten in einer Bucht, in der Ibn Battuta seinen Reisebericht zu Ende schrieb. Wir besuchen die Tempel von Selinunt, ihre Steine von der Farbe braunen Honigs, als habe das Licht über Jahrhunderte ihnen diese Tönung, diese Süße beschert. Wir be­ob­achten all die Aktivität am Strand, das Gewusel der Fischmärkte, die heimkehrenden Boote, schwer von Kadavern der Thunfische, glänzend und blutbefleckt, es gibt die rotierenden Kräne im Hafen und die Ungetüme der Containerschiffe, und dahinter ist immer das Meer, einfach, intakt, vom Menschen nicht veränderbar. Nur die Küste in ihrer Vielfalt ist eine Arbeit der Zeit, und die Städte am Meer sind Konstruktionen der Menschen.

Mein Geist verliert sich in diesem Wechselspiel von Transparenz und Widerstand und wird, wenn er das Meer sieht und das Spiel des Lichts auf den Steinplatten des Domplatzes von Syrakus, ein jedes Mal, ich kann es nicht anders sagen, neu geboren.

Das Mittelmeer in Zahlen Es bedeckt eine Fläche von 2,5 Millionen Quadratkilometern, die Länge seiner Küsten misst (inklusive der der Inseln) 52 374 Kilometer. 24 Anrainer umgeben das Nebenmeer des Atlantiks, das von mehr als 200 Millionen Küstenbewohnern bevölkert ist, die (ohne die Dialekte) 15 Sprachen sprechen. Seine maximale Länge beträgt 3860, die Breite 1800 Kilometer. Es fällt im Calypsotief westlich des Peloponnes auf 5267 Meter ab, und die Menge seines Wassers beträgt vier Millionen Kubikkilometer, beständig vermehrt von gut 80 Flüssen, die auch zu dem mittleren Salzgehalt von 3,7 Prozent beitragen.

Es wäre vermessen, das Mittelmeer in aller Vielfalt zu zeigen. Aber dieses Buch vermag hoffentlich einen neuartigen Eindruck dieses, unseres Meeres zu geben. Ein Kulturraum kann zwar politisch-geografisch definiert werden, aber er ist zuerst geprägt von seinen Menschen. Sie allein erzeugen Kultur. 

mare No. 118

No. 118Oktober / November 2016

Von Joachim Sartorius und Mathias Bothor

Mathias Bothor, einer der wichtigsten Foto­grafen unserer Zeit, porträtierte sie an den Küsten rund um das Mittelmeer vier Jahre lang während mehr als einem Dutzend Reisen.

Der Autor und Übersetzer ­Joachim Sartorius, 2011 vom französischen Kultur­minis­­ter zum „Ritter der Künste“ ­ernannt, fügt dem Buch einen Essay bei, der uns gleichsam eintauchen lässt in flirrendes Azur, in die hek­tische Betriebsamkeit und zugleich gelassene Ruhe des mediterranen Lebens.

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Vita Mathias Bothor, einer der wichtigsten Foto­grafen unserer Zeit, porträtierte sie an den Küsten rund um das Mittelmeer vier Jahre lang während mehr als einem Dutzend Reisen.

Der Autor und Übersetzer ­Joachim Sartorius, 2011 vom französischen Kultur­minis­­ter zum „Ritter der Künste“ ­ernannt, fügt dem Buch einen Essay bei, der uns gleichsam eintauchen lässt in flirrendes Azur, in die hek­tische Betriebsamkeit und zugleich gelassene Ruhe des mediterranen Lebens.
Person Von Joachim Sartorius und Mathias Bothor
Vita Mathias Bothor, einer der wichtigsten Foto­grafen unserer Zeit, porträtierte sie an den Küsten rund um das Mittelmeer vier Jahre lang während mehr als einem Dutzend Reisen.

Der Autor und Übersetzer ­Joachim Sartorius, 2011 vom französischen Kultur­minis­­ter zum „Ritter der Künste“ ­ernannt, fügt dem Buch einen Essay bei, der uns gleichsam eintauchen lässt in flirrendes Azur, in die hek­tische Betriebsamkeit und zugleich gelassene Ruhe des mediterranen Lebens.
Person Von Joachim Sartorius und Mathias Bothor