Diese Welle ist riesig

Die Art von Freiheit, die nur das Meer verheißt, war ein Hauptthema in der Musik- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts

In Wilhelmshaven gibt es ein Wandgemälde des Künstlers Ruben Poncia, das den US-Musiker Huddie Led­better, genannt Leadbelly, zeigt. Es ist ein riesenhaftes Bild, das die Sehnsucht nach Freiheit des Blues-Sängers darstellt, der mit dem Song „The Midnight Special“ bekannt geworden ist. Um was es im Blues geht, um die Sehnsucht nach Freiheit, den Willen, aus dem Schlamassel herauszukommen, das ist das Thema vieler Songs, das große Thema der populären Musik. 

Aber was ist Freiheit? In der Musik bedeutet Freiheit auch das Beharren auf eigensinnige Kräfte, auf das Entfalten solcher Kräfte, auf der Tatsache, dass Musik eine Art Spiel ist, das nach ganz eigenen Gesetzen funktioniert – in diese Richtung hat ­Immanuel Kant die Musik in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ interpretiert.

Der Begriff der Freiheit ist, betrachtet man einige ikonische Werke der Pop-Musik, eng mit dem der „Unendlichkeit“ verknüpft. Für Freiheit und Unendlichkeit – dafür steht, immer wieder, das Meer. Und diese Unendlichkeit ist – auch in seiner Nähe zum Göttlichen – ein großes Thema für einige der besten Pop-Bands des 20. Jahrhunderts.

In Songs wie „Grown Ocean“ von den Fleet Foxes, „Children Of The Sea“ von Black Sabbath, „Into The Mystic“ von Van Morrison, „Between The Devil And The Deep Blue Sea“ von Ella Fitzgerald, „Ocean Of Noise“ von Arcade Fire, „Ocean Breathes Salty“ von Modest Mouse, „Oceania“ von Björk oder „Ocean“ von Goldfrapp – in all diesen Songs wird auf unterschiedliche Weise das Meer als Sehnsuchtsort beschrieben, als einen Ort, an dem man sich in Weite, in Stürmen und Untiefen verlieren kann.

Doch auch anders: Hier am Meer, in der Sphäre dieser fremdartigen Welt, weitet sich der Geist, hier entspringt ein ozeanisches Gefühl, hier kann man durchatmen. Hier gibt es keinen vorgezeichneten Weg, hier ist vieles, hier ist alles möglich. Musik öffnet andere Sphären. Betrachten wir etwa das Cover des Debüt­albums „Nowhere“ der englischen Shoegaze-Band Ride. Wir sehen nichts als eine Wasser­oberfläche, ein leichtes Kräuseln. Eine Welle entsteht – oder ist sie im Begriff, sich aufzulösen? Ist diese Welle riesig? Oder ist sie ganz klein?

„First you look so strong / Then you fade away“ singt Mark Gardener in dem Stück „Vapour Trail“. Die Coverfotografie des Surf- und Skateboard-Fotografen Warren Bolster ist ein Sinnbild auch für den Noise-Pop-Sound von Ride. Das Entrückte, aber auch Chaotische und Psychedelische, das Schwelgerische mehrstimmiger Gitarrenwände, die Verzerrungen und Feedbacks, die grenzenlose musikalische Freiheit, die einer Naturgewalt gleichkommt: Das ist die so selbstvergessene Musik von Ride.

Das war auch die Idee von Mike Oldfield, dessen 1973 erschienenes Debütalbum „Tubular Bells“ eine sich brechende Welle vor einem hübsch bewölkten Himmel zeigt. Darüber, schwebend, surreal, unerklärlich, ein chromglänzendes, gbgenes Rohr mit zwei Öffnungen. Der Brite spielte fast alle Instrumente selbst ein – und schuf damit einen Klassiker des Progressive-Rock. Er nahm sich die Freiheit, aus Versatzstücken von klassischer Musik, Folk, Blues und Rock mit einer Vielzahl von Instrumenten, darunter auch die namensgebenden Röhrenglocken, einen Klang zu kreieren, der musikalische Entgrenzung ­erfahrbar macht. Und auch ihm diente das Meer als Modell für einen Sehnsuchtsort.

Iggy Pops Album „Free“ trägt den Freiheitsbegriff schon im Titel. Das 2019 erschienene, 18. Studioalbum des US-amerikanischen Punk-Gottvaters zeigt auf der Hülle den Künstler am Meer, es durchschreitend, den Blick in endlose Ferne gerichtet. Was als Bild fast schon ein Klischee ist, entpuppt sich musikalisch hier als veritable, eher unerwartbare Neuerfindung des Künstlers zwischen Free Jazz, Ambient und Spoken Poetry.

„Ich wollte frei sein. Ich weiß, dass dies eine Illusion ist und dass Freiheit nur etwas ist, das man fühlt. Aber ich habe mein Leben in dem Glauben gelebt, dass dieses Gefühl alles ist, was es wert ist, verfolgt zu werden, alles, was du brauchst – nicht unbedingt Glück oder Liebe, sondern das Gefühl, frei zu sein“, kommentiert der frühere Frontmann der Stooges das Werk, das klassische Songstrukturen in Teilen vollkommen hinter sich lässt.

Sicher kannte Iggy Pop das Album „Bitches Brew“ von Miles Davis, das 1970 erschien. Dieses Doppelalbum gilt als Ikone ­musikalischer Entgrenzung und als Beginn der Fusion-Musik. Auch dieses Werk zeichnet sich dadurch aus, dass es musikalische Grenzen im Spannungsfeld von Rock und Jazz verschiebt oder ganz auflöst. Das Cover zum Album wurde von dem Maler Mati Klarwein gestaltet, der bei Fernand Léger und Ernst Fuchs gelernt hatte und auch für andere Künstler wie Carlos Santana oder die Last Poets arbeitete.


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mare No. 162

mare No. 162Februar / März 2024

Von Marc Peschke

Marc Peschke, 1970 geboren, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg. Der Kunsthistoriker arbeitet als Journalist mit Schwerpunkt Kunst, Kultur und Pop, aber auch als Kurator und Kunstberater sowie als Künstler mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland. Seit 2020 ist Peschke unter dem Namen Maschera auch ­wieder als Musiker aktiv.

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Vita Marc Peschke, 1970 geboren, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg. Der Kunsthistoriker arbeitet als Journalist mit Schwerpunkt Kunst, Kultur und Pop, aber auch als Kurator und Kunstberater sowie als Künstler mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland. Seit 2020 ist Peschke unter dem Namen Maschera auch ­wieder als Musiker aktiv.
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Vita Marc Peschke, 1970 geboren, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg. Der Kunsthistoriker arbeitet als Journalist mit Schwerpunkt Kunst, Kultur und Pop, aber auch als Kurator und Kunstberater sowie als Künstler mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland. Seit 2020 ist Peschke unter dem Namen Maschera auch ­wieder als Musiker aktiv.
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