Die Zettelwirtschaft

Erst Fischhandel, dann Mittagessentreffpunkt für die Familie, dann ein kultiges Fischlokal: Im Berliner Lokal „Balıkçi Ergun“ speisen die Gäste wie in dem Esszimmer guter Freunde

Es gibt Lokale, die so PRIVAT scheinen, dass man sich fast wie ein Eindringling vorkommt. „Balıkçi Ergun“ – Fisch-Ergun – unter den Stadtbahnbögen in Berlin-Moabit ist ein solcher Ort. Oben rauschen die S-Bahnen vorbei, und unten rauscht beim Eintreten an der Decke ein Wald voller handbeschriebener Zettel. Wo ist man hier nur hineingeraten? Ein Fischgeschäft? Restaurant? Türkischer Kulturverein? Fanclub von Fenerbahçe? Und was sollen die ganzen Zettel? Es sind Botschaften gut aufgelegter Gäste, klärt Wirt Ergun Çetinbas¸ auf. Er sammelt sie und hängt sie an dieser Decke auf. „Josefine, ich liebe dich“ steht da geschrieben oder „Ob Fische trinken?“.

Çetinbas¸ selbst schneidet in der offenen, kombüsenartigen Küche die Zutaten für den Salat. Und es soll tatsächlich Leute geben, die nur wegen dieses Salats hierherkommen. Denn irgendetwas in diesem Salat macht einfach gute Laune. Der Fisch kommt per Luftfracht frisch und direkt aus türkischen Gewässern, bis zu einer Tonne in der Woche, organisiert von Ergun Çetinbas¸’ Bruder in Istanbul.

Auf der überschaubaren Karte steht ausschließlich Fisch. Er ist pur und un- spektakulär zubereitet und gerade deshalb so lecker. Man sollte zum Beispiel den Loup de mer vom Grill nicht übergehen, genauso wenig die gebratenen Sardellen oder Sardinen. Auch Austern gibt es, aber die kommen aus Spanien. Die Beilagen sind einfach: geröstetes Pide (türkisches Fladenbrot), zischend-scharf eingelegtes Gemüse, massenhaft Zitronen. Ein eher einfacher Wein, Bier und Raki lassen den Fisch schnell schwimmen.

Sucht der Gast dann den Weg zu den Toiletten, beginnt der Boden schon zu schwanken. Chaotisch und wie von be- trunkenem Schiffsvolk gebunkert, stapeln sich in den hinteren Räumen Sachen un- geklärten Ursprungs: Devotionalien der Küstenbewohner, Strandgut türkischen Familienlebens. Das Rumpeln der S-Bahn wandelt sich zum Stampfen der Schiffsmaschinen. Ein Mann reinigt Wasserpfeifen, Çetinbas¸’ Frau holt Nachschub aus der kältedampfenden Kühlkammer, und im submarinen Licht hängt das unvermeidliche Atatürk-Porträt.

Ob das Geschäft gut läuft? Çetinbas¸ wiegt den Kopf, zündet sich eine neue Zigarette an und lächelt eine pastellfarben gekleidete Japanerin an, die auf ihre Take-away-Sardellen wartet. Zwei türkische Livemusiker stimmen ihre Instrumente. Gleich wird es eine Bauchtanzdarbietung geben. Nachdem Çetinbas¸ in der Küche ausgeholfen hat, sitzt er auf seinem angestammten Stuhl und raucht eine Zigarette. Dann hilft er wieder in der Küche aus, bis zur nächsten Zigarette.

Mit zwölf Jahren hat er in Izmir als Schneider angefangen. Seine Eltern starben beide früh. Er stürzte sich aufs Fußballspielen und wurde Profispieler in der zweiten türkischen Liga. Als sein Bruder nach Deutschland ging, folgte er ihm – und lernte in Berlin seine heutige Frau kennen. Das war vor gut 30 Jahren. Auf dem Großmarkt etablierte er sich in Obst und Gemüse, bis er auf den Fisch kam.

Ursprünglich hatte Çetinbas¸ unter den Stadtbahngleisen sein Fischlager, von dem aus er diverse Berliner Wochenmärkte belieferte. Und das tut er auch heute noch. In den frühen Tagen kamen immer häufiger Freunde der Familie aus Izmir vorbei und verspeisten nebenbei ganz ungeniert das gegrillte heimatliche Meeresgetier von Papptellern mit Plastikbesteck im Stehen. Das nervte Çetinbas¸ irgendwann. Er stellte Stühle und Tische hin und einen Kellner ein, nagelte ein Schild über die Tür und hatte sein unprätentiöses, echtes Familienfischrestaurant eröffnet.

Die Freunde kommen immer noch – nur sind sie jetzt Gäste unter Gästen, die ordentlich von Tellern essen und Raki trinken und, wenn sie das Lokal verlassen, nicht mehr genau zu wissen scheinen, wo sie eigentlich sind – bis sie das Rattern einer S-Bahn daran erinnert. Noch 100 Meter weiter, fast bis zum Schloss Bellevue, begleitet einen der Duft von gegrilltem Fisch in der Luft, bis er von den Autoabgasen vom Großen Stern im Tiergarten verdrängt wird.

Ergun Çetinbas¸’ Fischsuppe
Zutaten (für 4 Personen)
700 g frische Garnelen, Shrimps, Sardellen und Sardinen, 50 g Butter, 2 kleine Bund Pfefferminze, etwas Dill, frische großblättrige Petersilie, schwarzer gemahlener Pfeffer, ein paar frische Basilikumblätter, 2 gehäutete Tomaten, 1/2 Gurke, 1/2 grüne und 1/2 rote Paprika, 1 Zwiebel, etwas Rucola, frischer Rosmarin, 1 Möhre, 4 bis 5 Radieschen, 3 bis 4 Knoblauchzehen.
Zubereitung
Garnelen, Shrimps, Sardellen und Sardinen in einen Liter leicht gesalzenes Wasser hineingeben und kurz aufkochen. Alle anderen Zutaten klein hacken und dazugeben, 15 Minuten köcheln lassen, dann pürieren, mit Zitrone abschmecken und mit geröstetem Pide servieren.

Balıkçi Ergun
Lüneburger Straße 382, 10557 Berlin (Moabit), Tel. 030/3975737. Geöffnet dienstags bis freitags von 15 bis 24 Uhr, samstags ab 15.30 Uhr, montags ab 17 Uhr.

mare No. 107

No. 107Dezember 2014 / Januar 2015

Von Thomas Findeiß und Rae Tashman

Thomas Findeiß ist Schauspieler, Synchronsprecher, Filmmusiker, Drehbuch- und Roman-Autor.

Rae Tashman ist Designerin und Fotografin in Berlin.

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Vita Thomas Findeiß ist Schauspieler, Synchronsprecher, Filmmusiker, Drehbuch- und Roman-Autor.

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