Die Zauberkunst der Koralle

Sie sind die Blumen der Meere. Ihre Schönheit, vor allem ihre Wandlungsfähigkeit haben die Korallen zu einem begehrten Objekt­ in Kunst und Kunsthandwerk gemacht, und das schon vor Jahrtausenden. Ihre Kulturgeschichte ist auch ein Stück Kunstgeschichte

Im Sommer 2012 war im Museum Kunst der Westküste auf Föhr ein Kunstwerk zu sehen, das Begeisterung und Verwunderung zugleich erntete. Rund 6000 gehäkelte Gebilde, in monatelanger, gemeinschaftlicher Handarbeit entstanden, formten ein gigantisches, farbenfrohes Abbild eines Korallenriffs und waren damit die vorerst letzte Station einer jahrtausendealten Tradition der Verarbeitung von Korallen in Kunst und Kultur.

Im Mittelpunkt stand dabei stets die Wandlungsfähigkeit der Koralle. In seinen „Metamorphosen“ beschreibt Ovid ihren Entstehungsmythos als eine monströse Transformation. Nachdem Perseus Andromeda aus den Klauen des Seeungeheuers befreit hat, wäscht er sich am Meeresufer die Spuren des Kampfes von den Händen. Dabei bettet er das Haupt der Medusa, die er mit seinem Schild als Spiegel zur Ab- wehr ihres versteinernden Blickes bezwungen hat, auf Seetang. Sogleich nimmt das Gewächs die Farbe des Blutes an, das vom Schlangenhaupt der Gorgone tropft, absorbiert die schwindende Kraft des Medusenblicks, die Pflanzen verhärten sich zu Korallenstöcken und werden von Nymphen überall im Meer verstreut.

Bis ins 20. Jahrhundert blieb der Medusamythos für die Ikonografie und Rezeption der Koralle entscheidend. Im Volksglauben zur Abwehr des bösen Blickes und allerhand Unheils eingesetzt, wurden ihre blutrote Farbe und ihre Fähigkeit zur Wandlung und Erneuerung im Christentum zum Symbol des Leidens und der Auferstehung Christi. Beide Motive verbinden sich in Darstellungen des Jesuskinds mit Korallenkette, die seit dem zwölften Jahrhundert in der Buchmalerei und ab dem 14. Jahrhundert vor allem in der italienischen und niederländischen Tafelmalerei verbreitet waren. Zweigförmige, die Verästelungen der Koralle zur Schau stellende Anhänger erinnerten an den Baum der Erkenntnis, den Lebensbaum, die Kreuzigung Christi und die Wurzel Jesse, Jesu königliche Abstammung aus dem Haus Davids. Auch Rosenkränze, Kruzifixe, Heiligenfiguren und andere aus der Koralle gearbeitete Devotionalien spielten auf das Blut und die Passion Christi an und versinnbildlichten die Transsubstantiation, die Wandlung von Brot und Wein in Jesu Leib und Blut, sowie die Auferstehung und das ewige Leben.

Ovids Ursprungsmythos und Plinius’ Schilderungen der Koralle als Meerespflanze, die sich, sobald sie aus dem Wasser gefischt wurde, zum Gestein verhärtete, hatten sie zum Symbol der Lebenskraft schlechthin werden lassen. Als Lebewesen, das die Elemente des Wassers und der Luft sowie die Naturreiche der Pflanzen und Mineralien überbrückte, stand sie für die Verwandlung zur mineralischen Vollkommenheit und den Fortbestand alles organisch Vergänglichen.

Während die religiöse Symbolik der Koralle im Spätmittelalter und der frühen Renaissance ihren Höhepunkt erlebte, überdauerte der Aberglaube an ihre Unheil abwehrende Wirkung die Jahrhunderte. Noch heute kann man beispielsweise in italienischen Tabakläden Schlüsselanhänger und Glücksbringer finden, an denen rote cornetti baumeln; meist sitzt jedoch anstelle der mittlerweile gefährdeten Edelkoralle ein billiges Plastikhörnchen. Die vermeintliche Wirksamkeit der Koralle gegen den bösen Blick ist aus der Medusalegende ableitbar; dass sie daneben noch als wundersames Allheilmittel und allmächtiger Talisman zum Einsatz kam, ist aus spätantiken, hellenistischen, arabischen und mittelalterlichen Quellen ersichtlich, die von mineralogischen bis zu alchemistischen Abhandlungen reichen.

Camillo Leonardi preist die Koralle in seinem „Speculum Lapidum“, das 1502 in Venedig erstmals im Druck erschien, als ein „wunderbares Vorsorgemittel“, das, am Körper getragen oder in Haus und Boot aufgehängt, Geister, Dämonen, Schatten, Illusionen, Albträume, Blitze, ungünstige Winde, Unwetter und wilde Tiere vertreibe. Mit Wein verdünnt eingenommen, stille zerriebene Koralle außerdem den Blutfluss, lindere Magen- und Herzleiden und helfe gegen Geschwüre der Milz, Harnstein und zerfressenes Zahnfleisch. Mit dem Saatgut auf die Felder gestreut oder in Obstbäume gehängt, garantiere sie Fruchtbarkeit und bewahre die Ernte vor Hagelschäden; im Kindesalter geschluckt, wirke sie auch noch vorbeugend gegen Epilepsie. Ein 1576 in Straßburg gedrucktes, hauptsächlich aus Schriften des Arnaldus de Villanova, Ramon Llull und Johannes de Rupescissa zusammengetragenes medizinisches Traktat bescheinigt der Koralle zusätzlich Wirksamkeit gegen „melancholische Fantasie“, schmerzhaftes Zahnen, Zahnverfärbungen, Hämorrhoiden und Unfruchtbarkeit. Zum Auflösen des Korallenpulvers eigne sich je nach Symptomen Regenwasser, Rosenwasser, warme Milch, warmer Wein oder Limonensaft.


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mare No. 111

No. 111August / September 2015

Von Marion Endt-Jones

Marion Endt-Jones, Jahrgang 1977, forschte drei Jahre lang zum Thema an der Universität Manchester, wo sie Bildwissenschaften lehrt. Lebende Korallen kennt die in Süddeutschland aufgewachsene promovierte Kulturwissenschaftlerin bislang nur aus Aquarien.

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Vita Marion Endt-Jones, Jahrgang 1977, forschte drei Jahre lang zum Thema an der Universität Manchester, wo sie Bildwissenschaften lehrt. Lebende Korallen kennt die in Süddeutschland aufgewachsene promovierte Kulturwissenschaftlerin bislang nur aus Aquarien.
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