Die Werft im Kinderzimmer

Wer mit Dampfern spielen will, muss welche bauen

Zwerge spielen gerne mit Riesen. Das ist einfach so, und deshalb macht der Spielzeughandel mit maßstabgerechten Verkleinerungen gute Geschäfte. Mit Autos im Matchbox-Maß. Oder schuhkartongroßen Lokomotiven. Nur Schiffe gibt es komischerweise nicht, die muss sich jedes Kind selber bauen. Aus Lego lässt sich da einiges machen, aber dann werden die Dampfer immer so eckig.

Viel schicker ist ein Modell aus Karton wie der Bananenfrachter „Cap San Diego". Der sieht auch in 250-facher Verkleinerung genauso aus wie das große Vorbild im Hamburger Hafen. Auf den Bauteilen aus Papier fehlt kein Detail: Bullaugen und Ankerklüsen, Freibordmarke und Positionslichter - alles dran.

Gebaut wird wie auf einer richtigen Werft. Erst Querschotten und Längsspanten, dann Bordwände und Rumpf, zuletzt Aufbauten, Schornstein und Takelage. Kartonbauer schwören auf ihren Werkstoff: Papier sei eigentlich wie Stahl. Nur eben in Stabilität, Gewicht und Biegsamkeit auf das Format XXS reduziert. Schade nur, dass die Montage fast so lange dauert wie auf einer richtigen Werft.

Andererseits wäre es auch zu schön, wenn ein Spielzeug einfach nur Spaß brächte. Doch in den Modellen aus Papier steckt zusätzlich erzieherische Absicht. Lernen soll das spielende Kind, Geduld zum Beispiel. Die auf 57,9 Zentimeter Länge geschrumpfte „Augusta Victoria", ein schmucker Dampfer aus dem Jahr 1889, besteht aus 1077 Teilen. Eine Herausforderung an die jugendliche Ausdauer.

Das Training an Papiermodellen hat eine lange Tradition: Der älteste Vorläufer der Ausschneidebögen wurde 1547 nach einer militärkundlichen Schrift des Grafen Reinhard zu Solms-Lich angefertigt. Die Serie von 44 Holzschnitten zeigte Hütten, Zelte und Kanonen - und sollte angehende Offiziere beim Lagerbau anleiten.

Den belehrenden Ballast sind die Bastelvorlagen nicht wieder losgeworden. Am heftigsten war der Eingriff der Großen in die Spielwelt der Kleinen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Schreiber Verlag in Esslingen wirbt 1915 damit, dass seine Modellierbögen Kinder wunderbar auf ihre künftige Rolle in der Gesellschaft vorbereiten würden. So dürfen Mädchen zwecks „Erfüllung in Haus und Familie" Puppen mit Papierkleidern behängen, während die Jungs den Errungenschaften der Technik begegnen: „Das bringt besonders den technisch begabten Schülern, den zukünftigen Ingenieuren und technischen Kaufleuten Anregung und Nutzen."

Auch bei der militärischen Früherziehung leisten Karton und Kleber wertvolle Dienste. Soldaten und ihr Gerät zählen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Verkaufsschlagern aller Modellbogen-Verlage. 1938 gehört zur Bauanleitung für den Torpedo-Zerstörer „Leberecht Maass" der Hinweis, dass er „dazu beitragen wird, Deutschlands Ruhm und Ehre jederzeit zu verteidigen und im Frieden wie im Kriege den deutschen Namen hochzuhalten".

Im Ernstfall kann sich der Modellbau hinter der Front bewähren: Die Bastelbögen sind, findet das Stuttgarter Evangelische Sonntagsblatt während des Ersten Weltkrieges, „ein prächtiges Hilfsmittel für Mütter, um zur Zeit vaterlose Buben durch Beschäftigung in Zucht zu halten".

Die Zähmung des Nachwuchses funktioniert auch in Friedenszeiten prima, bis in den siebziger Jahren ein revolutionäres Material Eltern die Ruhe raubt. Mit der Einführung von Plastik im Modellbau verkürzt sich die Montagezeit für Miniaturdampfer dramatisch. Selbst ein Gigant wie der Flugzeugträger USS „Enterprise" besteht nur noch aus 150 vorgefertigten Bauteilen - und ist nach spätestens zwei Tagen reif für den Stapellauf. Ein schwerer Schlag für die Papierschifffahrt.

Erst in den neunziger Jahren schafft sie das Comeback. Dank Computer und moderner Drucktechnik gelingen heute komplizierte Schnittmuster, mit denen perfekte Schiffskopien machbar sind. Aus Plastikbausätzen werden immer nur Plastikmodelle. Mit Papier gelingt die Illusion vom Schiffsriesen in Kleinformat. Deshalb wachsen die Kartonflotten wieder.

Unter den umworbenen Bauherren sind allerdings nur selten Kinder. Als der Hamburger Modellbaubogen Verlag zu Weihnachten 2000 sein neues Modell des Schlachtschiffs „Bismarck" auf den Markt bringt, greifen vor allem Väter und Großväter zu.

Der Nachwuchs rechnet und freut sich: Selbst geübte Kartonbauer schaffen nur zehn Teile pro Stunde. Zur „Bismarck" gehören 7290 Einzelteile. Macht 729 Stunden Bauzeit. Mal angenommen, Papa sitzt jeden Tag zwei Stunden an seinem Pappkreuzer. Dann ist er ein Jahr mit Schneide- und Klebearbeiten ausgelastet. Und die Kinder haben ihre Ruhe.

mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

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Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.
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Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.
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