Die Welt vom Meer gesehen

Eine Frau, die im Meer den Auftrag für ihr politisches Handeln fand. Nachruf auf Elisabeth Mann Borgese

Trotz ihrer Erkältung lief Elisabeth Mann Borgese Ski in den Engadiner Alpen. Und abends trank sie an der Hotelbar noch ihren obligaten Whisky. Nur ihr Hinweis, sie sei heute nicht aufnahmefähig genug, das geliebte Segantini-Museum in St. Moritz zu besuchen, war beunruhigend. Am folgenden Morgen, gegen drei Uhr, verstarb Elisabeth, fast 84-jährig, an einer plötzlichen und heftigen Lungenentzündung.

1948 kam sie zum ersten Mal zurück ins zerstörte Nachkriegsdeutschland. „Entsetzt über die Perversität der Menschen“, verfasste sie gemeinsam mit ihrem Mann Giuseppe Borgese noch im selben Jahr eine Weltverfassung. In über 50 Sprachen übersetzt und in Millionenauflage gedruckt, fanden ihre Ideen Anhänger wie Mahatma Gandhi, Albert Einstein oder Jean-Paul Sartre. Und als die International Organisation of World Federalists einen Präsidenten suchte, fiel die Wahl auf die junge Frau. Ohne Titel und Lehrstuhl, vor allem ohne Prätention: „Ich war eben sehr aktiv und habe halt besonders viele Vorschläge gemacht.“

Und die machte sie fortan ohne Unterlass. Ob als erste Frau im Club of Rome, als Uno-Botschafterin Österreichs für die Seerechtskonferenz oder indem sie die Regierung der Seychellen persönlich zur Ratifizierung des Neuen Seerechts überredete. Wir sehen die Ozeane als Wüsten, die es bestenfalls zu überqueren gilt. Elisabeth sah diesen scheinbar nutzlosen Raum als gemeinsames Erbe der Menschheit. Beispielsweise drohte sie den großen Kabelfirmen, die mit ihren modernen Kommunikationsadern Milliarden verdienen, mit einer Klage, sollten diese nicht auch die armen Küstenländer an den horrenden Einnahmen beteiligen. So verstand sie soziale Gerechtigkeit: als Voraussetzung für den Weltfrieden.

Elisabeths Einsatz für die Schwächeren bezog sich jedoch nicht nur auf die Menschen. Über Jahrzehnte beschäftigte sie sich mit der Intelligenz von Tieren. Ihre Hingabe zu ihren Hunden blieb dann auch nicht ohne skurrile Züge. Ihrem Setterrüden Arli brachte sie das Schreiben auf einer umgebauten Olivetti bei. Ein anderer Hund, Claudio, erwies sich als über die Maßen musikalisch. Schnell wurde ein Hundeklavier gebaut, und wieder war die Schnauze ausführendes Organ. Ich selbst habe erlebt, wie der Hund Bach oder Beethoven mit erstaunlichem Taktgefühl spielte.

Vor 20 Jahren lernte ich sie kennen, am schönsten Ort der Welt, wie sie immer meinte. Sie wohnte direkt am Meer, südlich von Halifax, an der Ostküste Kanadas. In dem kleinen Haus saß die kleine Frau schon morgens um fünf am Schreibtisch und arbeitete, fuhr dann gegen Mittag viel zu schnell über die Küstenstraße zu ihrer Vorlesung an der Universität – um pünktlich um fünf Uhr nachmittags zu Hause ihren ersten Whisky zu trinken, umringt von ihren Hunden. Wenn ich Glück hatte, setzte sie sich nach dem Abendessen (wunderbarer Fisch, und auch ihre Hummersuppe schmeckte vorzüglich) an ihren Flügel und spielte ein Impromptu von Schubert. Sie hatte im Zürcher Exil am Konservatorium als Pianistin abgeschlossen, ihre einzige Berufsausbildung. Beiläufig nannte sie ihre späteren Lehrer: vor allem Rudolf Serkin, aber auch Vladimir Horowitz.

Es war schwer, mit ihr Schritt zu halten. Sie stand früher auf, war besser gelaunt oder kannte sich besser aus in Windows als ich mit meinen 25 Jahren. Auf ihren Arbeitsreisen hatte sie immer einen kleinen Koffer dabei, darin ein Laptop, ein Drucker und ein Gewirr von Kabeln und Steckern. Sie war stolz darauf, in jedem Land der Erde die geeigneten Stecker für ihren Computer dabeizuhaben. So reiste sie fast pausenlos von Kontinent zu Kontinent. Vor einigen Monaten begleitete ich sie zum Hamburger Flughafen. Die Dame am Schalter benötigte mehrere Minuten, um in dem dicken Flugscheinbündel den richtigen zu finden. Lächelnd blickte sie die 83-Jährige an: „Einen schönen Urlaub machen Sie da aber, und Sie reisen in so viele Länder!“ Elisabeth tänzelte geradezu: „Das ist kein Urlaub. Das ist alles Arbeit!“

Alles, was sie tat, schien spielerischer Natur. Ich erinnere mich gut, wie sie die förmliche Atmosphäre bei einem Abendessen zu Hause rettete. Sie bat mich, ihren Hometrainer aus dem Fernsehzimmer zu holen und auf die Terrasse zu stellen. Elisabeth strampelte so vergnügt, dass der etwas steife Botschafter Singapurs eilfertig selbst mit ein paar beeindruckenden Liegestützen ihre Aktivität unterstützte. Beim Nachtisch wurde die Atmosphäre um vieles lockerer.

In ihrem letzten Manuskript zieht sie den Vergleich von Bergen und Meeren in der Malerei, der Musik und der Politik. Für Elisabeth gab es da eine Wesensverwandtschaft. Genauso, wie sie Frieden, wirtschaftliche Entwicklung und die Erhaltung der Umwelt als untrennbar und unteilbar bezeichnete. Ob für ihr geliebtes Meer wie für die wiedergefundenen Berge, die in den letzten Jahren für sie immer bestimmender wurden.

Sie sagte einmal, sie wolle am liebsten in den Hundehimmel kommen. In welchem Himmel sie auch sein mag: Ich bin überzeugt, sie arbeitet schon an einer Himmelsverfassung.

mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Nikolaus Gelpke

Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe „mareTV“ im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.

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Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe „mareTV“ im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.
Person Von Nikolaus Gelpke
Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe „mareTV“ im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.
Person Von Nikolaus Gelpke