Die Welle danach

Nach dem Tsunami Weihnachten 2004 bekamen die Moken, Seenomaden vor Thailands Westküste, Spendengelder. Seither haben sie einen Begriff für „sich Sorgen machen“

Für die Welle hatten sie vor dem Tsunami ein Wort, eines nur: Laboon. Laboon bedeutet „Menschenfresserwelle“. „Jetzt“, sagt Salama, die Zähne rot vom Betelkauen, „jetzt haben wir viele Wörter.“ Salama holt tief Luft, er bläst die Backen auf. In seinem Bauch grummelt es, ein tiefes, bedrohliches „Ggggrrrrh“. Immer lauter. Aus dem Grummeln wird ein Stöhnen. Was wie ein fernes Gewitter klang, ist jetzt ein entfesselter Sturm, ein Toben, das aus dem Mund des Alten bricht. Und dann, wie Felsen auf den Strand, schlägt Salama seinen wütendsten Ton heraus: „Bumm! Bumm! Bumm!“ „Das“, sagt er, nun wieder leise, „war die Welle.“

Für Salang dagegen ist sie der Klang, mit dem irgendetwas ihm das Wasser unter dem Kiel wegzieht. „Schlpfff“, macht Salang lachend. „Und dann“, sagt er, „saß ich auf den Korallen. Krrgggh.“ Er lacht wieder. Dunung redet vom Klirren des Geschirrs. Dem Bersten der Teller, Tassen und Schüsseln, die er fallen ließ, als er die Welle kommen sah. Dunung rief seine Tochter, er rannte ins Besucherzentrum der Insel, in die Station der Ranger, er rüttelte an den Zelten und Türen der Touristen. Gemeinsam flüchteten sie den Berg hinterm Strand hinauf. Am 26. Dezember 2004 schlug der Tsunami auf Mu Ko Surin ein, der Archipel der Seenomaden. Sie sahen, wie er ihre Hütten knickte, wie er mannshohe Steine vor sich hertrieb. Sie sahen, wie er auch das letzte ihrer Boote auf die Felsen schlug. Sie sahen, wie das hölzerne Besucherzentrum des Naturparks von den Wassern zermalmt wurde. Sie sahen den zweiten, den dritten Ansturm der Fluten, bis auch das Verwaltungsgebäude barst, ein solider Betonbau immerhin. Doch nicht hiervon reden die Moken, wenn sie sich an jene Tage erinnern. Für sie sind jene Stunden vor allem Geräusche, für jeden von ihnen ein anderes. Es ist, als habe die Erinnerung ihre Augen verschlossen. „Ich will das nicht mehr sehen“, sagt Salama.

Im Oktober 2004, ein paar Wochen vor der Katastrophe, war ich das erste Mal auf Mu Ko Surin. Der kleine Archipel, fünf Inselchen rund 60 Seemeilen vor der Westküste Thailands, ist die Heimat der Moken. Er ist ihr Hafen während der langen Zeit des alljährlichen Monsuns. Die Moken durchpflügten einst die ganze Andamanensee, so wie die Moklen, die Urang Lawoi, die Orang Laut Indonesiens. Noch immer können sich die Stämme der Seenomaden im Altmalaiischen verständigen, in Burma wie in Thailand oder vor den Küsten Sumatras. Ich schwamm mit den Kindern der Moken und staunte über ihre Fähigkeit, Kieselsteinchen auf dem Meeresgrund von kleinen Muscheln zu unterscheiden – ohne Taucherbrille (mare No. 48). Zielsicher warfen sie ihre Speere in Fischleiber. Die Männer kehrten mit vollen Netzen zurück und warfen die Beute auf den Strand, jeder konnte sich bedienen. Salama erzählte mir von seinen Ahnen, er zeigte mir den Friedhof mit dem bunten Totempfahl. Am Ende fing er den kleinen Hai, der mich im flachen Wasser erschreckt hatte, und servierte ihn mir zum Abendessen.

Salama berichtete auch von den Wellen. Nicht jene fürchteten sie, die weit draußen toben. „Darüber“, sagte Salama, „kommen wir leicht.“ Es waren die kleinen Wellen, die sie ängstigten. Sie holten die Kinder am Strand, sie kamen plötzlich, sie waren sehr stark. „Laboon“, sagt Salama, „reichte mir bis an die Hüfte.“ Es war eine kleine Welle. Eine gewaltige kleine Welle.

Doch alle 200 Moken überlebten den Tsunami. Mit ihnen die Ranger des Naturparks und das doppelte Dutzend Touristen. „Die Moken waren es, die sich mit ihren Kanus in die Wellen stürzten und uns auf das sichere Ufer holten“, schwärmte ein amerikanischer Tourist. Die Moken hatten die Zeichen erkannt: das erregte Schreien der Krähen, das plötzliche Schweigen der Hunde, das Wasser, das sich jählings und rasend schnell zurückzog. Die Alten hatten vor Laboon gewarnt.

Unter den Geretteten waren auch zwei Schauspieler und Sänger, Superstars in Thailand, die auf einer Bootstour vor den Inseln unterwegs gewesen waren. „Plötzlich wirbelte das Boot herum. Wir wussten nicht mehr, wo wir sind. Auf einmal saßen wir auf den Korallen.“ Sarang jagte schließlich die Verwirrten von den Korallen über den trockengefallenen Meeresgrund den Berg hinauf, wo sie sicher waren.

Zurück auf dem Festland, starteten sie eine Medienkampagne, die ihre Retter feiern sollte. Und die Hilfe für die nun mittellosen Moken bringen sollte. Sie drehten einen Dokumentarfilm, Zeitungen schrieben von der „fantastischen Rettung auf Mu Ko Surin“. Die staatenlosen Seenomaden, Parias der thailändischen Gesellschaft, wurden zum Strohhalm, mit dem sich eine Nation aus den verheerenden Wassern zu retten glaubte. Sie waren Hoffnung inmitten all des Unglücks. „Nichts ist verloren, wo solche Wunder geschehen“, schrieben die Zeitungen.


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mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

Von Maik Brandenburg und Agnès Dherbeys

Mehrere Wochen warteten die in Bangkok lebende Fotografin Agnès Dherbeys, geboren 1977, und der Rügener Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, auf die Genehmigung, zu den Moken fahren zu dürfen. Am Ziel angekommen, mussten sie ihre Recherche vor Ort innerhalb von drei Stunden erledigen. Mehr Zeit ließ ihnen der Chef des Nationalparks nicht. Wir danken Thai Airways und der Tourism Authority Thailand für die freundliche Unterstützung.

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Vita Mehrere Wochen warteten die in Bangkok lebende Fotografin Agnès Dherbeys, geboren 1977, und der Rügener Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, auf die Genehmigung, zu den Moken fahren zu dürfen. Am Ziel angekommen, mussten sie ihre Recherche vor Ort innerhalb von drei Stunden erledigen. Mehr Zeit ließ ihnen der Chef des Nationalparks nicht. Wir danken Thai Airways und der Tourism Authority Thailand für die freundliche Unterstützung.
Person Von Maik Brandenburg und Agnès Dherbeys
Vita Mehrere Wochen warteten die in Bangkok lebende Fotografin Agnès Dherbeys, geboren 1977, und der Rügener Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, auf die Genehmigung, zu den Moken fahren zu dürfen. Am Ziel angekommen, mussten sie ihre Recherche vor Ort innerhalb von drei Stunden erledigen. Mehr Zeit ließ ihnen der Chef des Nationalparks nicht. Wir danken Thai Airways und der Tourism Authority Thailand für die freundliche Unterstützung.
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