Die Verwandlung

Anders als bei Säugetieren und Vögeln ist das biologische Geschlecht mancher Fischarten nicht festgelegt. Der evolutionäre Vorteil hiervon scheint geklärt. Nur die Physiologie dahinter bleibt ein Rätsel

Es ist nicht verwunderlich, dass der Zeichentrickfilm „Findet Nemo“ aus dem Jahr 2003 so viele Kinobesucher zu Tränen rührte. Mit einem Clownfischpapa, dessen Partnerin gestorben ist und der verzweifelt versucht, seinen kleinen Sohn Nemo allein durchzubringen, fiebert jeder gern mit. Doch aus biologischer Sicht ist der Plot völlig un­realistisch: Kein Clownfisch würde sich als alleinerziehender Vater durchschlagen. Schon weil diese Fische, was ihre geschlechtliche Identität betrifft, dafür viel zu flexibel sind: männlich oder weiblich? Alles zu seiner Zeit.

„Nemo ist ein Transsexueller“, titelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ anlässlich der Filmpremiere denn auch ungewohnt schrill. Inhaltlich war das nicht ganz korrekt, denn im Gegensatz zu einem Transsexuellen hat Titelheld Nemo mit seinem biologischen Geschlecht grundsätzlich kein Problem. Worauf die Schlagzeile anspielte: Clownfische können ihr Geschlecht bei Bedarf verändern. Und in Wirklichkeit würde sich Nemos Vater vielleicht, statt alleinerziehender Papa zu bleiben, flugs in ein Weibchen verwandeln und mit einem männlichen Artgenossen eine neue Familie gründen.

Dass Witwer oder Witwen mit Kind recht bald eine neue Partnerschaft ein­gehen, ist auch unter Menschen keine ­Seltenheit. Weshalb aber wechseln Clownfischmännchen vor diesem Schritt manchmal ihr Geschlecht? Ist diese Verwandlung ein sinnfreies Überbleibsel aus einer Sackgasse der Evolutionsgeschichte?

Dagegen spricht, dass die anmutigen orangefarben, schwarz und weiß gemus­terten Clownfische, die unter anderem am Great Barrier Reef vor der Küste Austra­liens leben, bei Weitem nicht die einzigen Flossentiere mit der Fähigkeit zum Geschlechtswechsel sind. Bei 450 verschiedenen Arten von Fischen haben Wissenschaftler das Phänomen bereits be­obachtet. Im Gegensatz zum Homo sapiens brauchen Fische in solchen Fällen weder Hormonpräparate noch spezielle Ärzte, die geschlechtsangleichende Operationen durchführen. Auch auf Gleichstellungs­beauftragte und ein Binnen-I können sie getrost verzichten. Denn anders als bei Vögeln oder Säugetieren wie dem Menschen ist das biologische Geschlecht bei vielen Flossentieren nicht genetisch festgelegt. Beneidenswert.

Zahlreiche Fischarten sind sogenannte sequenzielle Hermaphroditen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben können sie ihr Geschlecht für immer verändern. Männliche Barramundis und Goldbrassen etwa werden dann – so wie Clownfischmännchen – zu Weibchen. Noch häufiger ist die Verwandlung von Weibchen in Männchen, die von vielen Lippfischarten praktiziert wird. Doch worin liegt der ­biologische Nutzen, wenn Männchen zu Weibchen werden und umgekehrt?

Der Fischexperte und ehemalige Leiter der Korallenfischabteilung des Stutt­garter Zoos Wilhelma, Kai-Uwe Genzel, hat eine simple Erklärung. „Das Potenzial zur Geschlechtsveränderung optimiert die Chancen, die eigenen Gene weiterzugeben.“ Zum Beispiel bei Clownfischen: „Viele Riffe sind wie kleine, weit von­ein­an­der entfernte Unterwasser­inseln“, erklärt Genzel. Dort immer einen passenden Sexualpartner zu finden sei schwierig. Nicht selten sitze ein Clownfischmännchen einsam auf einem Felsen und warte sehnsüchtig auf eine Partnerin. „Kommt dann endlich ein Artgenosse daher“, sagt Genzel, „passt man eher sein Geschlecht so an, dass Fortpflanzung möglich wird, als dass man sich die Chance entgehen lässt.“ Insbesondere, wenn man verwitwet sei und Vater.

Wohl am spektakulärsten geht es bei der Geschlechtsumwandlung von Schafskopf-Lippfischen zur Sache. Manchmal zieht sich das größte Weibchen einer Gruppe dieser Art plötzlich für etwa eine Woche in eine Höhle im Korallenriff zurück. Kommt die Fischdame danach wieder hervor, ist sie kaum wiederzuerkennen. Ehemals grazil, hat sie nun dicke Hoden, und an ihrer breiten Stirn steht eine imposante Beule hervor. 

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Till Hein

Till Hein, Jahrgang 1969, Wissenschaftsjournalist in Berlin, las neulich, dass es beim Homo sapiens in Wirklichkeit nicht nur zwei oder drei, sondern insgesamt 60 Geschlechter gibt: neben „Frau“ und „Mann“ unter anderem auch „Pangender“, „Transgender“, „Two-Spirit“, „Inter-“ oder „Crossgender“.

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Vita Till Hein, Jahrgang 1969, Wissenschaftsjournalist in Berlin, las neulich, dass es beim Homo sapiens in Wirklichkeit nicht nur zwei oder drei, sondern insgesamt 60 Geschlechter gibt: neben „Frau“ und „Mann“ unter anderem auch „Pangender“, „Transgender“, „Two-Spirit“, „Inter-“ oder „Crossgender“.
Person Von Till Hein
Vita Till Hein, Jahrgang 1969, Wissenschaftsjournalist in Berlin, las neulich, dass es beim Homo sapiens in Wirklichkeit nicht nur zwei oder drei, sondern insgesamt 60 Geschlechter gibt: neben „Frau“ und „Mann“ unter anderem auch „Pangender“, „Transgender“, „Two-Spirit“, „Inter-“ oder „Crossgender“.
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