Die Vermessung der Meere

120 Jahre nach der ersten Meeresbodenkarte, damals mit überwiegend weißen Flächen, tritt die Bathymetrie, die Lehre der Vermessung der topo­grafischen Gestalt der Ozeanböden, in eine neue Ära. Bis 2030 soll die gesamte Tiefsee kartiert sein

„Hooray“ und „Houraa“ hallte es, als die „Goliath“ am Abend des 28. August 1850 das Cap Gris-Nez bei Calais erreichte. Die Seeleute an Bord der „Goliath“ jubelten, und die Menschen am Ufer winkten ihnen zu. Am Morgen hatte der Schaufelraddampfer auf der anderen Seite des Ärmelkanals in Dover abgelegt; auf seinem Deck eine mannshohe Kabeltrommel, von der die Arbeiter während der gut 30 Kilometer langen Überfahrt langsam ein fingerdickes Kabel abrollten – das erste Seekabel der Welt. Schon am nächsten Tag sollten zum allerersten Mal Funksprüche zwischen London und Paris hin und her tickern.

Doch nachdem die Techniker das Kabel an die Funkstation angeschlossen hatten, blieb die Leitung tot. Schnell machten Gerüchte die Runde, ein Fischer habe sie versehentlich durchtrennt. Tatsächlich aber war es nur einige hundert Meter vom Ufer entfernt gerissen. Ein Jahr später klappte es: Nachdem die britische Submarine Telegraph Company ein zweites, verstärktes Kabel verlegt hatte, konnte der Funkverkehr zwischen London und Paris endlich beginnen. 

Das erste Seekabel der Welt war eine Sensation und weckte den Wunsch nach mehr. Für die Meeresforschung war dieser plötzliche Boom ein Glück, denn auf einmal interessierten sich Industrie und Regierungen für etwas, das für die meis­ten Menschen jahrtausendelang unheimlich oder einfach irrelevant gewesen war: die Gestalt des Meeresbodens. Plötzlich war Geld da, um teure Expedi­tio­nen für die Vermessung der Tiefe zu finanzieren. 

Der erste Versuch, mit der „Goliath“ ein Kabel durch den Ärmelkanal zu ziehen, wurde zum Lehrstück. Die Inge­nieure erkannten, dass sie felsiges Gelände meiden mussten. So machten sie sich zusammen mit Meeresforschern daran, die flachsten Stellen für die transkontinentalen Kabeltrassen zu suchen. Damals begann die Ära der ozeanischen Tiefenmessung, der Bathymetrie. Sie gipfelte im Jahr 1903 in der ersten Weltkarte des Meeresbodens – der General Bathymetric Chart of the Oceans (Gebco). Vier Jahre lang trugen damals Forscher aus Frankreich, Großbritannien, den USA und aus Deutschland Daten von Tausenden Tiefenmessungen zusammen. Am Ende legten sie mit der Gebco eine Karte vor, die Meeresbecken, Tiefseegräben, mittelozeanische Rücken und die Tiefen­linien der Küsten in bis dato unerreichter Genauigkeit zeigten.

Die Gebco gibt es heute noch. Seit 1903 ist die Karte in mehreren Auflagen erschienen. Mit jeder Ausgabe kamen neue Tiefenmessungen hinzu. Von Mal zu Mal wurde die Karte genauer, realistischer. Derzeit arbeitet ein internationales Forscherteam im Gebco-Projekt „Seabed 2030“ daran, bis zum Ende dieses Jahrzehnts eine neue, digitale Karte zu erschaffen, die besser als alle bisherigen sein soll. Sie wird die Strukturen am Meeresboden erstmals mit einer Auflösung von 500 mal 500 Metern zeigen. Ziel ist die Abbildung des gesamten irdischen Meeresbodens. Ein gigantisches Projekt, unterstützt von der gemeinnützigen japanischen Nippon Foundation.

Zum Team gehört auch Boris Dorschel-Herr, der am Alfred-Wegener-Ins­titut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven die Bathymetrieabteilung leitet. Im Projekt „Seabed 2030“ ist er für den südlichen Teil des Globus zuständig – alles jenseits 50 Grad südlicher Breite bis hinab zur Antarktis. Bereits im vergangenen Jahr veröffentlichte sein Team eine erste bathymetrische Karte dieser Region, die man sich im Internet kostenlos anschauen kann. Bis 2030 wird sie permanent um neue Daten ergänzt. 

„Wie in der Anfangszeit der Gebco besteht unsere Aufgabe vor allem darin, Daten aus aller Welt zusammenzutragen“, sagt Dorschel-Herr, „mitzubekommen, wo neue bathymetrische Daten erhoben werden, und nachzufragen, ob wir diese nutzen dürfen.“ Heutzutage sind das vor allem Tiefenmessungen, die vom Schiff aus mit Echolot gemacht werden – etwa von Fischereischiffen oder von Forscherkollegen, die während ihrer Expeditionen den Meeresboden abscannen. 


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mare No. 160

mare No. 160Oktober / November 2023

Von Tim Schröder

Im Büro von Tim Schröder, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsjournalist in Oldenburg, hängt eine Seekarte der Weser- und Jademündung. Für ihn hat es etwas Meditatives, den Tiefenlinien der Flüsse und Priele zu folgen.

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