Die vergessene Farbe des Meeres

Die Herstellung von Gofun, dem Weißpigment der traditionellen japanischen Malerei, ist eine aufwendige und zeitraubende Angelegenheit. Nur noch ein Meister beherrscht die Kunst, die Kostbarkeit aus Austernschalen zu gewinnen

Das ist das Sortiment eines Magiers. Drachenblut, getrockneter Farbstoff des Tintenfischs, rot fermentierter Reis, verkohltes Elfenbein, Kurkumapulver, Galläpfel, Faulbaumrinde, Walnussschalen. Dazu Wismut, Tintenstein, russische Jade, spanischer Ocker und Bergkristallpulver. Fra-Angelico-Blau, extrahiert aus pulverisiertem Lapislazuli. Getrocknete Kermesläuse. Sogar ein Döschen echter Schneckenpurpur ist hinter den Säcken und Kisten versteckt, 40-mal wertvoller als Gold, ein Gramm kostet 2439 Euro und 50 Cent. In der ehemaligen Mühle lagern auch Knochenasche und Steinkreide, Marmormehl und fein gemahlenes Glas. 35 Jahre hat der Jäger der verlorenen Farben gebraucht, um sich dieses Sortiment zusammenzusuchen. Georg Kremer, mehr Analytiker als Alchemist, sucht nach Pigmenten, die nur Spezialisten kennen. Wie Gofun, oder Muschelweiß, die Farbe aus dem Meer.

„Manche Wörter gehen im Lauf der Zeit verloren: Sie sind altmodisch, werden von den Menschen nicht mehr benutzt, verschwinden aus der Sprache des Alltags“, sinniert der Chemiker. „Auch Farben geht es so: Sobald es scheinbar bessere Alternativen gibt, geraten sie in Vergessenheit.“ Kremers Zuhause Aichstetten, ein kleiner Weiler im Allgäu, ist weit weg von den Metropolen der Welt und doch das europäische Zentrum für den Handel mit traditionellen Pigmenten. Und so landet, wer sich bei Museen und Materialarchiven, bei Antiquitätenhändlern, Künstlern und Restauratoren nach Bezugsquellen für Gofun erkundigt, jenem legendären Weiß aus Japan, das Kirschblüten zum Leuchten bringt und Puppengesichter glänzen lässt, fast zwangsläufig in der Farbenmühle von Georg Kremer.

Mit knapp 100 Euro je Kilogramm steht das Muschelweiß mit seinem leicht warmen Porzellanton (Jahresproduktion: acht Tonnen) in der Preisliste. Ein Kilogramm gleißendes Titanweiß (Jahresproduktion: fünf Millionen Tonnen) kostet ein Zehntel – Titanoxid, als Pigment entdeckt vor knapp 100 Jahren, ist heute das am häufigsten verwendete Weiß der Welt. „Meine Kunden wissen aber, dass Gofun einen anderen Charakter hat und dass es zehn oder mehr Jahre dauert, um die Farbe herzustellen.“ Der Preis, sagt Kremer mit einem Lächeln, sei da nicht mehr so wichtig. „Wer Gofun kennt, rechnet nicht die Kosten je Quadratmeter. Dessen Maßeinheit ist die Schönheit.“ Dann sucht er im Computer nach der Adresse von Haruo Nakagawa. Dieser Mann, sagt der Farbenhändler, produziere in seiner Firma bei Kyoto noch echtes Gofun aus Austernschalen. Die anderen Hersteller hätten aufgegeben.

„Früher haben wir die Muscheln sogar per Güterwaggon vom Seto-Binnenmeer zu unserer Fabrik in Uji bei Kyoto bringen lassen. Der Rekord, 1954 war das, lag bei 800 Tonnen – Hunderte von Mitarbeitern haben damals die Austern sortiert“, erinnert sich Haruo Nakagawa. Sein Großvater kaufte 1910 die Farbenmühle, die damals schon mehr als 300 Jahre existiert haben soll. Inzwischen produziert der Enkel mit einer selbst entwickelten Hightechanlage Pigmente aller Art aus Mineralien und Erden. Gofun, die traditionellste aller Farben des Hauses, wird im nicht modernisierten Teil der Firma hergestellt.

„1980 haben wir das letzte Mal Austern geerntet, aber nur zwei Tonnen. Es gab kaum noch Muscheln, wahrscheinlich lag das an der Umweltverschmutzung. Mehr Schalen einzulagern hätte aber auch keinen Sinn gemacht, denn der Markt schrumpft, und es gibt immer weniger Käufer.“ Acht Tonnen Pulver produziert Haruo Nakagawa noch im Jahr, als Letzter seiner Branche. Fast alles geht als Trennmittel und Farbstoff in die Nahrungsmittelindustrie, die beste Qualität sichern sich allerdings Farbenhändler wie Georg Kremer.

Künstler, die um ihren Nachschub bangen, kann der Japaner beruhigen: „Und wenn es nur noch ein paar Kilogramm im Jahr sind: Gofun werden wir immer produzieren, das sind wir der Tradition schuldig. Ich habe noch tonnenweise Vorräte – genug für zwei, drei Jahrzehnte.“

Das ist nicht zu übersehen. Im Hof türmen sich Austernschalen zu meterhohen Hügeln, jenseits der Straße liegen weitere Halden. „Mindestens zehn, besser noch mehr Jahre müssen die Muscheln liegen, bevor wir anfangen, sie zu verarbeiten. Zum Glück stinkt es nicht mehr: Alle organischen Bestandteile sind verrottet. Früher war das hier kaum auszuhalten“, sagt der Firmenchef. Austern schützen sich gegen ihre Feinde durch eine widerstandsfähige Schale, die aus Kalziumkarbonatkristallen und der Protein-Collagen-Mischung Conchin besteht. Wind und Wetter müssen diese extrem feste Verbindung erst auflösen, bevor die Farbenmacher an die Arbeit gehen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 91. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Helge Bendl

Der in Berlin lebende Autor und Fotograf Helge Bendl, Jahrgang 1978, studierte einige Semester Kunstgeschichte in München und lernte dabei den Kosmos des Farbenhändlers Georg Kremer kennen. Seither reist der Reporter immer wieder auf den Spuren historischer Pigmente um die Welt.

Mehr Informationen
Vita Der in Berlin lebende Autor und Fotograf Helge Bendl, Jahrgang 1978, studierte einige Semester Kunstgeschichte in München und lernte dabei den Kosmos des Farbenhändlers Georg Kremer kennen. Seither reist der Reporter immer wieder auf den Spuren historischer Pigmente um die Welt.
Person Von Helge Bendl
Vita Der in Berlin lebende Autor und Fotograf Helge Bendl, Jahrgang 1978, studierte einige Semester Kunstgeschichte in München und lernte dabei den Kosmos des Farbenhändlers Georg Kremer kennen. Seither reist der Reporter immer wieder auf den Spuren historischer Pigmente um die Welt.
Person Von Helge Bendl