Die unterschätzte Welle

Verheerungen asiatischer Tsunamis gehören zu unserem kollektiven Schreckensgedächtnis. In Europa ist das Risiko kaum geringer

Der Wind stand still am Morgen des 1. November 1755, als in Lissabon die Erde bebte und den Glauben an einen gerechten Gott erschütterte. Der erste Stoß erfasste die Stadt um 9.40 Uhr. Er brachte Wohnhäuser und Paläste zum Einsturz und ließ die Kirchen kollabieren, die Tausende Gläubige unter sich begruben. Weil Allerheiligen war und überall Kerzen brannten, brachen in den Trümmern heftige Brände aus. Minuten später folgte der zweite Stoß. Die Menschen, die sich retten konnten, liefen zum Hafen, um Schutz zu suchen. Doch nicht einmal das Wasser war mehr da. Wo sich kurz zuvor noch der Tejo breit in den Atlantik wälzte, blickten die Flüchtenden nun auf vergessene Wracks und Strandgut. Der Fluss hatte sein Bett freigelegt.

Wie hoch die Welle war, die nur wenige Minuten später wie eine Wand am Horizont erschien, den Flusslauf entlangfegte und die Stadt überrollte, ist heute nicht mehr genau nachzuvollziehen. „Plötzlich erschien ein riesiger Körper aus Wasser, der sich wie ein Berg auftürmte“, schrieb der Augenzeuge Charles Davy. „Er kam schäumend und brüllend und raste so ungestüm die Küste entlang, dass wir um unser Leben rannten. Viele wurden einfach weggeschwemmt, andere standen auch weit entfernt vom Ufer bis über die Hüfte im Wasser.“ Im Hafen, schreibt Davy, wurden Schiffe wie in einem Sturm umhergewirbelt. „Und alles ohne Wind, was das Unbegreiflichste an allem war.“

30 000 bis 100 000 Menschen verloren an jenem 1. November in Lissabon ihr Leben, sie starben unter den Trümmern von Gebäuden, in einem Großbrand und in den Fluten eines Tsunamis, der nicht einmal so gnädig war, das Feuer vollständig zu löschen. Mit einer Höhe von fünf bis 15 Metern, schätzen Forscher, brach die Welle an die Küste. Vermutlich lag das Epizentrum des Bebens, das eine Stärke von etwa 8,5 erreichte, 200 Kilometer südwestlich von Lissabon, unweit  der Stelle, wo die Eurasische und Afrikanische Platte aufeinandertreffen und ihre Bruchzonen unüberschaubar ausfransen.

Heute weiß man, dass es dort eine abrupte vertikale Bewegung unter Wasser gegeben haben muss. „Generell gehen wir von einem Subduktionsbeben aus“, sagt Heidrun Kopp vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. In einer Subduktionszone schiebt sich eine ozeanische unter eine kontinentale Erdplatte, die Platten verhaken sich, über Jahrhunderte baut sich enorme Spannung auf – und löst sich in Sekunden. Die kontinentale Platte springt plötzlich nach oben. Der Ruck setzt eine Welle in Gang.

In Europa sind Tsunamis einer breiten Öffentlichkeit erst seit 2004 bekannt, als gigantische Wellen am Indischen Ozean rund 230 000 Einheimische und Touristen in den Tod rissen. Dass der Begriff Tsunami – auf deutsch „Hafenwelle“ – aus dem Japanischen kommt, festigte rasch den Eindruck eines rein asiatischen Phänomens. „Aber auch in Europa sind solche Katastrophen möglich“, sagt Jörn Lauterjung vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. Der Tsunami von Lissabon war nur einer von vielen.

Im Jahr 1908 starben in Süditalien bis zu 100 000 Menschen, als nach Erdstößen vor Sizilien eine Woge die Städte Messina und Reggio Calabria überrollte. 1956 kamen in der Ägäis 53 Menschen in einem Tsunami um. Erst 2003 brandeten nach einem Erdstoß vor Algerien zwei Meter hohe Wellen abends an die Küsten Ibizas und Mallorcas, zerstörten Boote und hätten bei einem nur etwas stärkeren Beben tagsüber wohl Menschenleben gekostet. „Das Mittelmeer ist das zweitgefährdetste Meer der Erde“, sagt Lauterjung. Nur im Pazifik, an dessen Rändern die Pazifische Platte im berüchtigten „Feuerring“ abtaucht, gibt es mehr Tsunamis.

„Weltweit verursachen Erdbeben etwa 90 Prozent aller Tsunamis“, sagt Lauterjung. „In Europa sind es bis zu 80 Prozent.“ Weitere mögliche Auslöser sind Vulkane, die ausbrechen oder deren Flanken ins Wasser stürzen, Meteoriteneinschläge und unterseeische Hangrutschungen wie vor 8000 Jahren vor Norwegen. Damals stürzte am „Storegga“ genannten Kontinentalhang ein Stück Meeresboden von der Größe Islands in die Tiefe und schickte gewaltige Wellen an die nord­europäischen Küsten, die bis zu 25 Meter hoch auf Land und Siedlungen trafen.


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mare No. 116

No. 116Juni / Juli 2016

Von Carina Braun

Carina Braun, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin in Hamburg. Von europäischen Tsunamis erfuhr sie zum ersten Mal während eines Auslandssemesters in Lissabon. Kurz nach ihrer Recherche zum Artikel machte sie Urlaub in Messina – und suchte sich sicherheitshalber eine Unterkunft oben am Berg.

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Vita Carina Braun, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin in Hamburg. Von europäischen Tsunamis erfuhr sie zum ersten Mal während eines Auslandssemesters in Lissabon. Kurz nach ihrer Recherche zum Artikel machte sie Urlaub in Messina – und suchte sich sicherheitshalber eine Unterkunft oben am Berg.
Person Von Carina Braun
Vita Carina Braun, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin in Hamburg. Von europäischen Tsunamis erfuhr sie zum ersten Mal während eines Auslandssemesters in Lissabon. Kurz nach ihrer Recherche zum Artikel machte sie Urlaub in Messina – und suchte sich sicherheitshalber eine Unterkunft oben am Berg.
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