Die universale Metropole

Wer fragt noch, ob die Türkei zu Europa gehört? In Istanbul führen Europa und Asien längst eine harmonische Ehe

Es gibt Städte, deren Aura sich über die Epochen bewahrt. Mühelos und dauerhaft überstrahlt sie die wechselhafte Geschichte der Staaten, auf deren Boden sie angesiedelt sind. Istanbul ist solch eine Stadt in denkbar höchstem Maß, dank ihrer Historie und mehr noch auf Grund einer einzigartigen Topographie, die sie zum Sinnbild macht: ein Treffpunkt der Welten.

„Istanbul, alte Hand, mit Ringen geschmückt, ausgestreckt nach Europa“, notierte einst der französische Schriftsteller Jean Cocteau. Die Metapher mutet aktueller an denn je und erweist sich zugleich als Bild von offenbarem Anachronismus. Denn mit dem Schmuck, sofern damit das Ganze der Türkei und das Wirtschaftliche gemeint sein sollte, dürfte es heute wohl ein wenig hapern, zumal in den Augen von EU-Erweiterungsskeptikern. Doch die ausgestreckte Hand im Dichterwort beschreibt einen Stand der Dinge, der seit langem und bis in unsere Tage seine Gültigkeit besitzt und dabei eine Vorgeschichte aufzuweisen hat, die das Gedächtnis mancher Eurokraten womöglich ein bisschen überfordert.

Istanbul ist eine Stadt, in der sich nicht nur Welten, sondern auch Zeiten treffen – eine nicht nur transkontinentale, sondern beinahe transzendentale Stadt, die alle Gewissheiten über die Festigkeit von Orten und Standpunkten ins Wanken zu bringen vermag. Die Stadt am Bosporus ist vielleicht eine der am meisten symbolgeladenen Städte der Erde, ist der Fixpunkt ihrer größten Landmasse mit Namen Eurasien und zugleich die Verweigerung jenes notorischen Dominanzanspruchs, den geltend zu machen sich die hinter dem Wortanteil „Eur“ Versammelten mit so großer Selbstverständlichkeit angewöhnt haben.

Diese Selbstverständlichkeit ist aber alles andere als gerechtfertigt. Gewiss, Istanbul stellt in unseren Tagen eine jener Städte von gut zehn Millionen Einwohnern dar, deren es etliche auf dem Erdball gibt, aber zugleich ist sie doch viel mehr als eine moderne Millionenstadt. Millionenstadt nämlich war Istanbul bereits im Jahr 1000 nach der Geburt Christi, zu einer Zeit also, als Millionenstädte weitgehend unbekannt waren, vor allem unter Christenmenschen, deren Religion diese vorderasiatische, europäische Stadt über die meisten Jahrhunderte prägte.

Paris des Mittelalters“ hat man sie genannt und „Schmelztiegel der Nationen“. Kaiser hat sie beherbergt und Patriarchen, Christen und Heiden, Juden und Muslime, und immer stand sie mit ihren zwei Beinen auf zwei Kontinenten, was sich von keiner anderen Stadt behaupten lässt. Vor allem aber galt sie als Stadt des Landes und des Meeres. Denn mit seinem legendären Hafen, dem Goldenen Horn, wurde Istanbul zum Schnittpunkt der Wege, die der Welthandel nahm. Stätten, die Auskunft geben über vergangenes Dasein, und Staaten, die vergingen und entstanden, bilden nur den kleineren Anteil jener Orte, aus deren Kette sich die Menschheitsgeschichte zusammenfügt. Die Städte aber sind es, in denen Gesellschaften ihre Formen fanden und in denen die Entwicklung der Zivilisationen oder dessen, was dafür gehalten wird, ihren Gang nahm – Athen, Rom, Alexandria, Paris, London. Und Häfen – ob für Flugzeuge oder Schiffe gemacht – spielen immer eine große Rolle, wo es um Entwicklung, Fortschritt und Zusammenwachsen geht.

Bei all dem ist Istanbul – das hat Cocteau nicht ganz korrekt gesehen – seit jeher auch eine Metropole des wahrhaft alten Europas gewesen, jenes Zipfels an der asiatischen Landmasse, dessen Ideen- und Kulturgeschichte schon in den Wurzeln über den einen Kontinent hinauswächst. Damit reicht sie etwas weiter als die Erinnerung mancher zeitgenössischer Politokraten und populistischer Parteistrategen, denen es vorgeblich den Nachtschlaf raubt, dass die Türken heute vor Brüssels Toren warten, nachdem sie bereits vor Wien und später dann vor Aldi gestanden haben.

Istanbul, das zeitweilige Ost-Rom, ist kaum jünger als Rom selbst, die Ewige Stadt – mehr als 2600 Jahre vergingen seit der Gründung. Und nichts hat sich seither geändert an dem Tatbestand, dass Istanbul eine geteilte Stadt ist, gebaut auf zwei Kontinente, Europa und Asien, zerschnitten nur von einem schmalen Band Meer. Das gibt dem Befund, dass es sich bei dieser Stadt um eine Drehscheibe und einen Angelpunkt zwischen Ost und West, zwischen Okzident und Orient handelt, seine Unumstößlichkeit.


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mare No. 46

No. 46Oktober / November 2004

Ein Essay von Benjamin Worthmann

Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler), Jahrgang 1947, lebt als Journalist und Autor in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist im Goldmann-Verlag erschienen. In mare No. 43 wandte er sich dem ungeliebten Nachbarn der Türkei, Griechenland, zu. Er porträtierte Lieben und Leben des Vaters aller Tankerkönige, Aristoteles Onassis.

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Vita Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler), Jahrgang 1947, lebt als Journalist und Autor in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist im Goldmann-Verlag erschienen. In mare No. 43 wandte er sich dem ungeliebten Nachbarn der Türkei, Griechenland, zu. Er porträtierte Lieben und Leben des Vaters aller Tankerkönige, Aristoteles Onassis.
Person Ein Essay von Benjamin Worthmann
Vita Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler), Jahrgang 1947, lebt als Journalist und Autor in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist im Goldmann-Verlag erschienen. In mare No. 43 wandte er sich dem ungeliebten Nachbarn der Türkei, Griechenland, zu. Er porträtierte Lieben und Leben des Vaters aller Tankerkönige, Aristoteles Onassis.
Person Ein Essay von Benjamin Worthmann