Die unendliche Fahrt

Der Mythos der Geisterschiffe ist quicklebendig und beschert uns immerfort Filme, Bücher und Schlagzeilen. Die Phantasmagorien haben ihren Ursprung in unserem Unterbewusstsein, in unseren Ängsten und Träumen

Vierzig Jahre nach seinem mysteriösen Verschwinden taucht ein italienischer Kreuzfahrtriese wieder auf. Fünf Schatzsucher entern das im dichten Nebel treibende, verrottete Wrack der „Antonia Graza“, die nicht nur äußerlich große Ähnlichkeiten mit der 1956 gesunkenen „Andrea Doria“ aufweist. Im Innern sind trotz der Verwüstungen, die jahrzehntelanges, führerloses Treiben auf den Weltmeeren hinterlassen haben, Reste der alten Pracht zu erkennen: prunkvolle Verzierungen der Belle Époque, ein luxuriöses Schwimmbassin und Reste der Habe der verschwundenen Passagiere. Schon bald merkt das Team, dass es nicht allein an Bord ist. Einschusslöcher, Blutflecken und mysteriöse Klänge aus einer anderen Zeit. Einer nach dem anderen wird von den Geistern der verschollenen Passagiere hinweggerafft. Die „Antonia Graza“ ist ein Geisterschiff.

Und bei Weitem nicht das einzige, das die Weltmeere bevölkert. Denn die Geschichte der „Ghost Ship“-Verfilmung aus dem Jahr 2002 steht in einer unendlichen Reihe von Bearbeitungen des Mythos vom „Geisterschiff“. Geschichten von herrenlos auf dem Meer treibenden Segelschiffen, verschwundenen Besatzungen und Spukerscheinungen in nebligen Nächten, die so alt sind wie die Seefahrt selbst und immer wieder die (Meeres-)Oberfläche erreichen – sei es als musikalisches Motiv in Wagners „Fliegendem Holländer“, als unendlich variierte literarische Fiktion oder eben als moderne Hollywood-Verfilmung.

„Es packt mich jedes Mal aufs Neue, wenn sie wie ein Geisterschiff aus der Dunkelheit auftaucht“, sind die ersten Worte in James Camerons Welterfolg „Titanic“, und Johnny Depp als Kapitän Jack Sparrow kämpft in den „Piraten der Karibik“-Filmen gleich mit mehreren Geisterschiffen – der kinematische Ozean ist voll von Gefährten, die nicht von dieser Welt sind.

Wie sehr die Mythen und Begrifflichkeiten vom Geisterschiff auch in unseren modernen Zeiten noch im kollektiven Gedächtnis verankert sind, zeigen nicht zuletzt die Schlagzeilen zu einem ganz realen japanischen Schiff. Die „Ryo Un Maru“ war in den tosenden Kräften des Tsunamis von 2011 spurlos verschwunden und hatte in einer Zeit von GPS und Satellitenüberwachung unbemannt und unbemerkt den weiten Weg über den Pazifischen Ozean bis nach Alaska zurückgelegt. „Ende einer Irrfahrt über den Pazifik“ titelte eine große Zeitung mit Schaudern, „Japanisches Geisterschiff erreicht Kanada“ – ganz so, als sei nicht ein menschenleerer Küstentrawler, sondern tatsächlich die „Andrea Doria“ vor der nordamerikanischen Küste vor Anker gegangen.

Kein Einzelfall. Fiktion und Realität verschwimmen, wenn es um die realen Sichtungen von Geisterschiffen geht, deren Schicksale immer wieder zu mythenumrankten, nie aufgeklärten Kriminalfällen werden. Wo das Meer alle Beweise verschlungen hat, bleibt viel Raum für Legenden, wie zum Beispiel im bis heute nicht aufgeklärten Fall der „Mary Celeste“.

Das zweimastige Segelschiff wurde 1872 auf halben Weg zwischen den Azoren und Portugal, verlassen auf dem Atlantik treibend, aufgefunden. Von der Besatzung gab es nie auch nur eine Spur. Sie hatte offenbar das voll funktionstüchtige Schiff in Panik mit dem ebenfalls verschwundenen Beiboot verlassen. Nicht einmal die Zeit für einen Eintrag in das ansonsten penibel geführte Logbuch war geblieben. Es endete am 25. November und gab eine Position unweit der Azoreninsel Santa Maria an. Schon zeitgenössische Berichte machten große Angst als Ursache dieser Wahnsinnstat aus. „Wären sie von irgendeinem weniger wichtigen Vorfall veranlasst worden, von Deck zu gehen, dann hätten sie doch wenigstens ihr Frühstück beendet und ihre persönliche Habe mitgenommen. Sie wurden aber offensichtlich gezwungen, ihr Schiff sofort aufzugeben. Warum? Weil sie Angst hatten“, war eine schlecht widerlegbare Meinung. In den folgenden Jahrzehnten blühten die Legenden, in denen die „Mary Celeste“ mal von ehemaligen Sklaven nach Afrika verschleppt worden war, dann wieder soll die Besatzung bei einem Seebeben über Bord gegangen sein. Eine Entführung der gesamten Mannschaft wurde in Betracht gezogen. Oder ein kollektiver Selbstmord infolge von geheimnisvollen Giftgasen. Nahezu jedes Drama, das einem Menschen an Land widerfahren kann, hatte sich in irgendeiner Fantasie auch auf der „Mary Celeste“ zugetragen.

Die symbolische Belegung des Meeres und die sprichwörtlichen Hirngespinste von geisterhaften Schiffen erzählen viel über die menschliche Psyche. Vom „Schiffbruch als Daseinsmetapher“ sprach der Philosoph Hans Blumenberg. Ihn fortschreibend, erkennt der Philosoph Joachim Kahl, dass der Mensch zwar ein Landbewohner sei, aber alle entscheidenden Lebensmetaphern vom Meer geprägt seien. Bis in die gehobene Umgangssprache hinein werde dies deutlich. „Wir brechen zu neuen Ufern auf, wir laufen einen sicheren Hafen an, wir sind reif für die Insel, wir sind den Stürmen des Lebens ausgesetzt. Manchmal muss das Ruder herumgerissen werden. Einige warten auf den großen Steuermann. Andere bedauern, dass der Lotse, der das Staatsschiff gelenkt hatte, von Bord geht. Wir sprechen vom Leuchtturm, vom Stranden und vom Strandgut des Lebens. Manche sind ein Wrack“, schreibt Kahl. Das Schiff sei ein komplexes Sinnbild des menschlichen Lebens. Je nach den Umständen könne es ein Traumschiff oder ein Narrenschiff, ein Luxusschiff, ein Sklavenschiff und eben auch ein Geisterschiff sein.


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mare No. 99

No. 99August / September 2013

Von Alexander Kohlmann

Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, entdeckte als kleiner Junge auf dem Dachboden seiner Großeltern ein verstaubtes Buch. Fasziniert las er darin zum ersten Mal die Geschichte vom Geisterschiff. Später studierte er Medienwissenschaft und Geschichte mit Magisterabschluss in Berlin und Hamburg. Seit seinem Studium arbeitet er als Kulturjournalist und Dramaturg unter anderem für das Deutschlandradio Kultur und die Zeitschrift Theater Heute.

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Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, entdeckte als kleiner Junge auf dem Dachboden seiner Großeltern ein verstaubtes Buch. Fasziniert las er darin zum ersten Mal die Geschichte vom Geisterschiff. Später studierte er Medienwissenschaft und Geschichte mit Magisterabschluss in Berlin und Hamburg. Seit seinem Studium arbeitet er als Kulturjournalist und Dramaturg unter anderem für das Deutschlandradio Kultur und die Zeitschrift Theater Heute.
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, entdeckte als kleiner Junge auf dem Dachboden seiner Großeltern ein verstaubtes Buch. Fasziniert las er darin zum ersten Mal die Geschichte vom Geisterschiff. Später studierte er Medienwissenschaft und Geschichte mit Magisterabschluss in Berlin und Hamburg. Seit seinem Studium arbeitet er als Kulturjournalist und Dramaturg unter anderem für das Deutschlandradio Kultur und die Zeitschrift Theater Heute.
Person Von Alexander Kohlmann