Die Umwege der Wahrheit

Widersprüchliche Ergebnisse nicht nur der Meeresforschung erzeugen Unmut in der steuerzahlenden Öffentlichkeit. Dabei führen erst Kontroversen zu zuverlässiger Erkenntnis

Kalkbildenden Algen geht es schlechter, wenn zunehmend Kohlendioxid vom Ozean aufgenommen wird, behaupten Ulf Riebesell und Koautoren. Nein, kalzifizierenden Algen geht es dann besser, so sagt es der Kreis um Debora Iglesias-Rodriguez. Aber was stimmt nun?

Beide Forschergruppen untersuchen die Auswirkungen des steigenden Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre auf kleine Kalkalgen im Meer. Und beide Studien verwenden durchaus gängige und schlüssige Methoden, um die entsprechenden Bedingungen nachzustellen. Trotzdem sind die Befunde nicht miteinander zu vereinbaren, und solche Uneinigkeiten rufen in der Öffentlichkeit und in der Politik meist Frust und Misstrauen hervor.

Der Ärger über derartige Ergebnisse verdrängt indes die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Debatte. Denn unter Wissenschaftlern führen kontroverse Ergebnisse zu Diskussionen, Stellungnahmen und einem Diskurs, der in neue Forschungsansätze mündet. Dennoch ist die Irritation der Öffentlichkeit und nicht zuletzt der Politik, die aufgrund von Forschungsergebnissen eine nachhaltige Klimapolitik erarbeiten soll, verständlich. Besonders die Öffentlichkeit tut sich angesichts bedeutender Investitionen von Steuergeldern schwer, Verständnis für wissenschaftliche Uneinigkeit zu gewinnen, wenn Fortschritte nicht klar erkennbar sind. Die Ursache hierfür ist meist, dass die Tätigkeiten der Wissenschaftler kaum bekannt sind.

Die Methoden der Forschung sind schwer zu vermitteln und liegen deutlich von allgemeinen Vorstellungen entfernt, wie diese funktioniert. In der Regel wird ein gezieltes „Abklopfen“ von Fragestellungen erwartet, das zu einem geradlinigen Wissenszuwachs führt. Doch wissenschaftliche Forschung basiert auf dem Prinzip der Falsifizierung: Wissenschaftler stellen Theorien auf und überprüfen sie auf ihre Ungültigkeit. Stellt sich dann heraus, dass eine Theorie falsch ist, wird sie verworfen. Das bedeutet, es setzen sich im Lauf eines Selektionsprozesses solche Theorien durch, deren Widerlegung nicht gelang. Das bestätigt auch Ulf Riebesell vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften: „Jede neue Erkenntnis ist zunächst erst einmal gleich unsicher. Bis sie dem fortwährenden Abklopfen auf Fehlerhaftigkeit lange genug standgehalten hat. Erkenntnisgewinn beruht ja nicht auf Verifizierung, sondern auf Falsifizierung.“ Dadurch gibt es zwar einen ständigen Wissenszuwachs, der „Wahrheit“ kommt man jedoch nur auf Umwegen und nur im Rahmen des technisch gerade Möglichen näher.

Dies zeigt sich auch bei der Betrachtung wissenschaftlicher Durchbrüche in den vergangenen Jahrhunderten, etwa anhand der Forschung zur Kontinentalverschiebung, die mit Alfred Wegener (1880–1930) ihren Anfang nahm. Das Verständnis von der Entstehung der Kontinente zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, dass die Kontinente, wie man sie in ihrer heutigen Form kennt, durch Landbrücken verbunden waren, die im Lauf der Zeit in den Ozeanen versanken. Wegener stellte eine andere Hypothese auf. Er vertrat die zu jener Zeit revolutionäre Ansicht, dass die heutigen Kontinente aus dem Urkontinent Pangaea entstanden sein müssten, indem Kontinentalplatten sich voneinander wegbewegten. Seine Überlegungen basierten auf Untersuchungen von Geologen und Biologen an Gesteinen und Fossilien, die auf verschiedenen Kontinenten gefunden wurden. Dieses Wissen, heute kaum noch aus den Schulbüchern wegzudenken, stand im Mittelpunkt eines fast 20-jährigen Disputs nach Wegeners erster Veröffentlichung. Erst zwei weitere Erkenntnisse festigten seinen Befund: die Feststellungen des Geophysikers Robert Schwinner über thermisch bedingte Strömungen im Erdinneren sowie 1925 bis 1927 die Entdeckung des Mittelatlantischen Rückens mithilfe der neuen Technik des Echolots.

Der Ablauf dieses Umdenkens ist ein Beispiel unter vielen für den typischen Verlauf von Wissenszuwachs in der Wissenschaft. Forschen läuft selten gerichtet und ohne Umwege ab; in der Regel sind es (auch scheinbare) Widersprüche, die durch Diskussion innerhalb der Wissenschaftsgemeinde zum Ergebnis führen. Wie wichtig dieses Abwägen kritischer und widersprüchlicher Beurteilungen nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Allgemeinheit ist, zeigt sich bei Themen, bei denen diese Diskussion nicht oder zu spät geführt wurde. Gerade in solchen Diskussionen liegt die Chance, Schäden im Vorfeld zu vermeiden.

Ein Beispiel für die Schädlichkeit von fehlender Debatte stellt die Verklappung von Munition nach dem Zweiten Weltkrieg in Nord- und Ostsee dar. Die Alliierten standen vor dem Problem, riesige Mengen an Munition möglichst schnell beseitigen zu müssen. Doch eigentlich war damals absehbar, dass solch große Mengen nicht für immer von Sediment bedeckt sein würden, dass die Hüllen mehr oder weniger schnell rosten und dann ihren gefährlichen Inhalt freigeben würden. Ob Phosphorverbrennungen bei Bernsteinsammlern am Strand, verletzte Fischer durch explodierende Granaten in Fischernetzen oder missgebildete Fische: Unter den Folgen leiden noch heute Menschen wie Tiere.


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mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

Von C. Fehling, A. Heinemann, K. O’Brien, S. Sudhaus und K. Suffrian

Carsten Fehling ist Doktorand der Physikalischen Chemie an der Kieler Christian-Albrechts-Universität und arbeitet an der Entwicklung laserbasierter Methoden zur Konzentrationsbestimmung von Spurengasen. Agnes Heinemann untersucht die Auswirkung der Ozeanversauerung auf Miesmuscheln in der Marinen Biogeochemie des IFM-Geomar in Kiel.

Killian O’Brien gehört dem Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel an und befasst sich mit Fragen des Seerechts. Stefanie Sudhaus ist Biologische Ozeanografin am IFM-Geomar und beschäftigt sich mit der Auswirkung von Klimaveränderungen auf stickstofffixierende Bakterien im Ozean. Die Meeresbiologin Kerstin Suffrian arbeitet im Physiologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität am Ionentransport in marinen Organismen. Die Autoren sind Mitglieder der Integrated School of Ocean Sciences, der Graduiertenplattform des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel. Die Idee zu dem Essay entstand bei einer Tagung, an der mare-Chefredakteur Nikolaus Gelpke teilnahm.

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Vita Carsten Fehling ist Doktorand der Physikalischen Chemie an der Kieler Christian-Albrechts-Universität und arbeitet an der Entwicklung laserbasierter Methoden zur Konzentrationsbestimmung von Spurengasen. Agnes Heinemann untersucht die Auswirkung der Ozeanversauerung auf Miesmuscheln in der Marinen Biogeochemie des IFM-Geomar in Kiel.

Killian O’Brien gehört dem Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel an und befasst sich mit Fragen des Seerechts. Stefanie Sudhaus ist Biologische Ozeanografin am IFM-Geomar und beschäftigt sich mit der Auswirkung von Klimaveränderungen auf stickstofffixierende Bakterien im Ozean. Die Meeresbiologin Kerstin Suffrian arbeitet im Physiologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität am Ionentransport in marinen Organismen. Die Autoren sind Mitglieder der Integrated School of Ocean Sciences, der Graduiertenplattform des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel. Die Idee zu dem Essay entstand bei einer Tagung, an der mare-Chefredakteur Nikolaus Gelpke teilnahm.
Person Von C. Fehling, A. Heinemann, K. O’Brien, S. Sudhaus und K. Suffrian
Vita Carsten Fehling ist Doktorand der Physikalischen Chemie an der Kieler Christian-Albrechts-Universität und arbeitet an der Entwicklung laserbasierter Methoden zur Konzentrationsbestimmung von Spurengasen. Agnes Heinemann untersucht die Auswirkung der Ozeanversauerung auf Miesmuscheln in der Marinen Biogeochemie des IFM-Geomar in Kiel.

Killian O’Brien gehört dem Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel an und befasst sich mit Fragen des Seerechts. Stefanie Sudhaus ist Biologische Ozeanografin am IFM-Geomar und beschäftigt sich mit der Auswirkung von Klimaveränderungen auf stickstofffixierende Bakterien im Ozean. Die Meeresbiologin Kerstin Suffrian arbeitet im Physiologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität am Ionentransport in marinen Organismen. Die Autoren sind Mitglieder der Integrated School of Ocean Sciences, der Graduiertenplattform des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel. Die Idee zu dem Essay entstand bei einer Tagung, an der mare-Chefredakteur Nikolaus Gelpke teilnahm.
Person Von C. Fehling, A. Heinemann, K. O’Brien, S. Sudhaus und K. Suffrian