Die Tiefenjäger

Zwei Männer kämpfen um den Weltrekord im freien Tauchen. 130 Meter Tiefe haben sie schon erreicht

Im Club Mediterrane an der äußersten Nordspitze Sardiniens, umgeben von kleinen Buchten, imposanten Felsformationen und einem in tausend Schattierungen zwischen smaragd und türkis leuchtenden Meer, hat Umberto Pelezzari sein Trainingsquartier aufgeschlagen.

Ein blonder Sunnyboy, 32 Jahre alt, groß, schlank, mit einem Körper wie vom Bildhauer gemeißelt. Wenn irgend etwas an diesem Körper nicht in Ordnung ist, können das nur Röntgenstrahlen feststellen. Dazu ein durch und durch freundliches Gemüt.

Kaum hat Pelezzari zum Interview Platz genommen, springt er auf und öffnet das Fenster. Er braucht die atmosphärische Luft wie der Fisch das Wasser. Chemisch gesehen atmen zwar alle die gleiche Luft, sagt er, aber es ist ein großer Unterschied, ob man sie sich mit weit geöffneten Nasenflügeln regelrecht holt oder sie – wie der Durchschnittsmensch – mehr oder weniger unbewusst aufnimmt. Die Atmung, die er praktiziert – „pranayama“ –, gehört zum Yoga und ist eigentlich eine Meditationsübung, die zu tiefer körperlicher und geistiger Entspannung führt. Ist er religiös? „Nicht in dem Sinne, dass ich in die Kirche gehe. Ich brauche keinen Priester, der mir etwas über Gott erzählt. Durch meinen Atem bin ich jede Sekunde mit der Schöpferkraft verbunden.“ Das gilt auch, wenn er nicht atmet und dabei länger unter Wasser bleibt als jeder andere Mensch.

Sein statischer Apnoe-Weltrekord liegt bei sieben Minuten, 22 Sekunden und 88 Hundertstel – aufgestellt 1992 auf Hawaii. Im September 1996 gelang ihm vor Elba ein Weltrekord im Tiefentauchen: 131 Meter. Sein Konkurrent, der Kubaner Francesco Pipin Ferreras Rodriguez, versenkte sich zwei Monate später mit angehaltenem Atem 133,8 Meter – die bestehende Bestmarke. Für Meeressäuger nichts Ungewöhnliches, für Menschen phänomenal.

Tief unten im Meer befindet sich eine Tür in eine andere Welt, zu der nur diese beiden Männer Zugang haben. Ihr Wettbewerb – er trägt den bezeichnenden Namen „No limit“ – stellt die größtmögliche Summe von Schwierigkeiten plus Anstrengung plus Ausgesetztsein plus Todesgefahr dar, vergleichbar höchstens mit Messners Mount-Everest-Erstbesteigung ohne Sauerstoff. Ihre Rekorde werden offiziell nicht anerkannt – zu gefährlich – und deshalb in der Rubrik „Experimente“ geführt. Ihre Tauchgänge werden immer tiefer, länger, gewagter, denn hinter jedem Ziel lockt ein unersättlicher Verführer, der ihnen zuruft: Es geht noch tiefer…

Pelezzari will wieder „the deepest man“ werden – „ohne ein Ziel vor Augen könnte ich keine Stunde trainieren“. Rekorde sind gut, meint er, weil sie Befriedigung bringen und seinen Sponsoren helfen, ihre Produkte besser zu verkaufen: Taucherutensilien, vom Anzug bis zur Uhr. Sein Zweikampf mit dem Kubaner, den alle Welt „Pipin“ nennt, ist auch ein Kampf um Werbeverträge. Er sagt: „Wir sind weder Freunde noch Feinde, sondern Konkurrenten. Man kann als Rekordjäger kein Millionär werden, aber es ist besser, später von Souvenirs zu leben als von Enttäuschungen.“

Gemäß den ungeschriebenen Gesetzen ihres Sports treten sie nur gegen sich selbst an. Niemals an einem Ort im direkten Vergleich. So haben es auch die Pioniere des Apnoe-Tiefentauchens gehalten, der Italiener Enzo Maiorca und der Franzose Jacques Mayol, deren Duell später in dem Film „Rausch der Tiefe“ verewigt wurde. Mayol hatte 1976 als Erster die magische 100-Meter-Marke durchbrochen. Naturwissenschaftler und Mediziner hatten geglaubt, dies sei unmöglich; kein menschlicher Organismus könne dem gewaltigen Wasserdruck standhalten. Als er wieder auftauchte – mit heilem Brustkorb – war der Weg frei für eine neue Generation von „Tiefenjägern“.

Wenn Pelezzari von seinem Job spricht, hat man das Gefühl, kein Mensch auf der Welt liebe das Freitauchen so sehr wie er. In Busto Arsizio geboren, weit weg vom Meer, konnte er schon als Fünfjähriger schwimmen wie ein Fisch. Seine Eltern haben ihn nicht zum Rekordtaucher erzogen. Es ergab sich so, im Swimmingpool. Dort geriet er in den Bann einer nie wieder versiegenden Kraft: Kreativität. Das Wasser wurde zu seinem Spielraum, in dem er sich entfaltete, das er eroberte, mit der Seele eines Engels, der den Tod nicht fürchtet. Er erinnert sich noch an seine Schulzeit, als er im Unterricht übte, seinen Atem anzuhalten. Beim Schwimmunterricht versteckte er sich immer vor seinem Trainer, unter einer Treppe im Becken.

Sich selbst nennt er „einen Wilden“. Der wilde Mann, sagt er, kommt nicht länger aus den Wäldern. Er kommt aus der Tiefe des Meeres und trägt die Emotionen eines längst vergessenen Zeitalters in sich. Auch der Urahn der Delphine war einst Landgänger, bevor er sich vor 50 Millionen Jahren entschloss, ins Wasser zu gehen.

Es gibt einen Film, der Pelezzari inmitten einer Schule von Delphinen zeigt, elegant, mit runden, nahezu identischen Bewegungen dahinschlängelnd, als wäre er einer von ihnen. Er hat nicht das verklärte Verhältnis seines Vorgängers Mayol zu den Flippern. Für ihn sind es einfach Trainingspartner. „Sie waren meine Lehrmeister. Sie haben mir ein Unterwasserbewusstsein und eine Anpassungsfähigkeit an die Strömungsverhältnisse vermittelt, wie ich es im Schwimmunterricht nie erfahren habe.“

Wie kommt es, dass der normale Mensch seinen Atem höchstens eine Minute anhalten kann, während die Säugetiere, deren Physiologie der menschlichen vergleichbar ist, es mühelos auf 30 oder 40 Minuten bringen? Wissenschaftler, die dieser Frage nachgingen, entdeckten bei ihnen einen sogenannten „Tauchreflex“, der sich immer dann einstellt, wenn die Tiere mit der Nase unter Wasser gehen. Der normale Puls, außerhalb des Wassers 80 bis 90 Schläge, fällt sofort auf zwölf Schläge, was einer Vollbremsung der Zirkulation gleichkommt. Der Körper schaltet blitzschnell auf Sparflamme, um den Sauerstoffverbrauch zu drosseln. Einen ähnlichen, allerdings sehr verkümmerten Tauchreflex stellten die Forscher auch beim Menschen fest, der sich mangels Gebrauch zurückgebildet hat. Die Apnoe-Tiefentaucher haben diese Fähigkeit wieder verfügbar gemacht. Nach den Prognosen von Tauchärzten können sie durchaus Tiefen um die 300 Meter erreichen, wenn sie sich die Techniken der Meeressäuger antrainieren.

Pipin und Pelezzari sind auf dem besten Wege dahin. Der Italiener betreibt beim Druckausgleich eine physiologische Akrobatik, die ihn schon heute zum Homo Aquaticus macht. Durch jahrzehntelanges Training lockerte er die Muskulatur seiner Zunge dermaßen, dass er ihre Spitze nach hinten gerollt tief in den Rachenraum versenkt, bis er Salz schmeckt, und sie dann an den Gaumen presst. Er sagt: „Das Problem mit der Tiefe ist, dass jeder Mensch eine persönliche Grenze hat, die er nicht überschreiten sollte. Herauszufinden, wo sie liegt, darin besteht die eigentliche Herausforderung.“

Zehn Monate muss er sich mental und körperlich auf einen Rekordversuch vorbereiten, in der Intensivphase bis zu neun Stunden täglich, Tauchpensum: sieben Kilometer. Jeden Morgen düst er in einem schneeweißen Zodiac des Club-Med mit seinen beiden Trainingspartnern hinaus aufs Meer. Mit Haut und Haaren bei der Sache zu sein, ist das mindeste, was er von ihnen verlangt. Davide, ein wild aussehender junger Bursche mit pechschwarzen Haaren, der früher Muscheltaucher war, wirft ein 50 Meter langes Seil mit einem Gewicht ins Wasser, an dem Pelezzari entlangtaucht, runter, rauf, runter, rauf, zehnmal in einer Stunde, wobei die Pausen immer kürzer werden. Intervalltraining. Er beachtet sehr genau die von Trainern, Sportmedizinern, Hyperbarikern und Physiotherapeuten aufgestellten Trainingstabellen und geht jeden Tag einen Meter tiefer, bis er die Tiefe erreicht hat, die er später vor Kameras und Juroren bewältigen will. Wie ein Hochseilakrobat, der ja auch nicht aufs Seil geht, wenn er nicht genau weiß, dass er heil rüberkommt. Manchmal sieht er unterwegs, wie die Lichtstrahlen in der Tiefe eine Art Dreieck formen, das nach unten kleiner und kleiner wird, bis es nur noch ein winziger Punkt ist – da muss er durch. „Das geht nur, wenn man das Meer sehr liebt und einen wirklichen Drang in die Tiefe verspürt.“


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mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Rolf Kunkel

Rolf Kunkel, freischaffender Reporter aus Ahrensburg bei Hamburg, fuhr sechs Jahre zur See. Angefangen hatte er in der Matrosenlaufbahn, doch er entschied sich schließlich für den Beruf des Schiffsstewards, „weil der die Zigaretten und den Alkohol verwaltet“. Als Journalist widmet er sich mit Vorliebe Meeresthemen, fuhr im U-Boot über den Atlantik und mit Containerfrachtern durch die Piratengewässer Südostasiens.

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Vita Rolf Kunkel, freischaffender Reporter aus Ahrensburg bei Hamburg, fuhr sechs Jahre zur See. Angefangen hatte er in der Matrosenlaufbahn, doch er entschied sich schließlich für den Beruf des Schiffsstewards, „weil der die Zigaretten und den Alkohol verwaltet“. Als Journalist widmet er sich mit Vorliebe Meeresthemen, fuhr im U-Boot über den Atlantik und mit Containerfrachtern durch die Piratengewässer Südostasiens.
Person Von Rolf Kunkel
Vita Rolf Kunkel, freischaffender Reporter aus Ahrensburg bei Hamburg, fuhr sechs Jahre zur See. Angefangen hatte er in der Matrosenlaufbahn, doch er entschied sich schließlich für den Beruf des Schiffsstewards, „weil der die Zigaretten und den Alkohol verwaltet“. Als Journalist widmet er sich mit Vorliebe Meeresthemen, fuhr im U-Boot über den Atlantik und mit Containerfrachtern durch die Piratengewässer Südostasiens.
Person Von Rolf Kunkel