Die Thomas-Katastrophe

Der schwerste Bombenanschlag auf deutschem Boden traf 1875 Bremerhaven – und riss 81 Menschen in den Tod

Am 11. Dezember 1875 meldet die Bremer „Weser-Zeitung“ in ihrer Abendausgabe: „Heute Mittag wurde unsere Stadt durch die Kunde von einem schweren Unglück, das sich in Bremerhaven zugetragen hat, in höchste Aufregung versetzt. 40 bis 50 Menschen sind getötet und verwundet.“ „Furchtbar verstümmelte Leichen“, heißt es weiter, „einzelne Gliedmaßen lagen umher.“ Der Schlag sei „vollständig unerwartet und von einer Gewissenlosigkeit veranlasst gewesen, deren Frevelhaftigkeit nicht scharf genug gebrandmarkt werden kann“.

Jener Samstag beginnt als prachtvoller Wintermorgen. Trotz Eisgangs herrscht reger Verkehr auf der Weser, ein dichter Mastenwald bewegt sich unter blauem Himmel, im Sonnenschein die stattlichen Häuserreihen von Bremerhaven und Geestemünde. An der Nordseite des Vorhafens wacht der Leuchtturm, und an der Südseite der Kajenmauer hat sich eine große Menschenmenge versammelt.

Bremerhaven nennt sich stolz „New Yorks deutsche Vorstadt“. Von dort brechen Auswanderer zur Reise in die Neue Welt auf. Von der Südkaje des Überseehafens will auch der Dampfer „Mosel“ des Norddeutschen Lloyds unter Kapitän Leist eine Reise nach New York antreten.

Das Schiff ist erst drei Jahre alt. Es hat 107 Mann Besatzung und Platz für annähernd 900 Passagiere. Noch ist die Gangway herabgelassen, noch herrscht hektisches Hin und Her. Arbeiter bringen letztes Gepäck an Bord, Freunde und Verwandte verabschieden sich. Insgesamt haben 576 Personen gebucht, davon 74 in der ersten Klasse, 147 in der zweiten und 355 im Zwischendeck. Viele von ihnen sind Auswanderer.

In diesem Augenblick kommt ein Fuhrwerk vorgefahren. Auf der Pritsche liegen drei schwere Kisten und einige Fässer, die noch verladen werden müssen. Eines ist aus dunkelbrauner Eiche und mit Eisen beschlagen, 13 Zentner schwer und außerordentlich unhandlich. Laut dem Frachtbrief enthält die Lieferung Eisenteile im Wert von 15000 Talern. Um 11.20 Uhr werden die Kisten, umschlungen von einem Tau, vom Dampfkran der „Mosel“ hochgezogen. Gleichzeitig machen sich drei Arbeiter daran, das Fass vom Wagen zu wuchten.

Was dann genau geschieht – ob es zu Boden fällt oder das Tau reißt und die Kisten auf das Fass fallen –, ist später nicht mehr zu klären. Eine gewaltige Detonation lässt die Luft erzittern. Ein Hagel von Sand, Glas und menschlichen Körperteilen streut in weitem Umkreis. In der anfänglichen Betäubung weiß niemand, was geschehen ist. Nach und nach erheben sich blutende Gestalten und schauen fragend um sich. Dort auf der Pier, wo eben noch reges Treiben war, sind Menschen und Wagen verschwunden. Stattdessen klafft ein vier Meter tiefer Krater. Verstümmelte Tote, Verletzte liegen überall.

Erste Ermittlungen der Polizei ergeben eine „im Fass verborgene Höllenmaschine“. Das Unglück, so vermutet man, war ein geplantes Verbrechen. Ein Anschlag.

Wie sich später herausstellt, ist der Täter Amerikaner. Die Zeitungen nennen ihn William King Thomas, manchmal auch Thomson oder William Keith Thomas. Geboren wurde er als Keith Alexander oder Alexander Keith in Halifax im US-Bundesstaat Pennsylvania als Sohn eines deutschstämmigen Brauereibesitzers. Bleiben wir bei Thomas, denn mit diesem Namen ist die Katastrophe auf immer verbunden.

Der schwergewichtige Mann, er wiegt 260 Pfund, ist 45 Jahre alt und seit elf Jahren verheiratet. Mit seiner etwa 15 Jahre jüngeren, aus New Orleans stammenden Frau hat der Amerikaner vier Kinder. Von 1868 bis 1870 sowie die vergangenen sechs Monate hat die Familie in Strehlen bei Dresden gelebt, ihre letzte Adresse: Residenzstraße 14.


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mare No. 57

No. 57August / September 2006

Von Cord Christian Troebst

Cord Christian Troebst, Jahrgang 1933, lebte zehn Jahre in New York und auf Cape Cod, war dann viele Jahre Chefredakteur des Springer-Auslandsdiensts in Hamburg. Seit seiner Pensionierung 1994 arbeitet er als freier Journalist. Bei den Fernsehübertragungen der Ereignisse vom 11. September 2001 aus den USA erinnerte er sich an einen Fall, der im späten 19. Jahrhundert Norddeutschland ähnlich erschüttert haben musste: die Thomas-Katastrophe.

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Vita Cord Christian Troebst, Jahrgang 1933, lebte zehn Jahre in New York und auf Cape Cod, war dann viele Jahre Chefredakteur des Springer-Auslandsdiensts in Hamburg. Seit seiner Pensionierung 1994 arbeitet er als freier Journalist. Bei den Fernsehübertragungen der Ereignisse vom 11. September 2001 aus den USA erinnerte er sich an einen Fall, der im späten 19. Jahrhundert Norddeutschland ähnlich erschüttert haben musste: die Thomas-Katastrophe.
Person Von Cord Christian Troebst
Vita Cord Christian Troebst, Jahrgang 1933, lebte zehn Jahre in New York und auf Cape Cod, war dann viele Jahre Chefredakteur des Springer-Auslandsdiensts in Hamburg. Seit seiner Pensionierung 1994 arbeitet er als freier Journalist. Bei den Fernsehübertragungen der Ereignisse vom 11. September 2001 aus den USA erinnerte er sich an einen Fall, der im späten 19. Jahrhundert Norddeutschland ähnlich erschüttert haben musste: die Thomas-Katastrophe.
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