Die tausend Arten des Meeres

Die Ausstellung „Seestücke“ in Hamburgs Kunsthalle sorgt für die Wiederentdeckung eines verkannten Genres der Kunst

„War in Zandvoort zu Fuß nach Overveen, ziemlich anstrengend, aber das Meer war wieder Meer und sagte: Guten Tag, Herr Beckmann.“ Es war wohl nicht das erste Mal, dass die Nordsee den deutschen Maler im holländischen Exil gegrüßt hatte. Max Beckmann liebte das Meer. Von der Dekade um den Ersten Weltkrieg abgesehen, hat er so viel Zeit an Stränden verbracht und so viele Meeresbilder gemalt, dass man sich wundern muss, warum man ihn zuerst als Menschenmaler sieht. Beckmann wusste um die Chance, die in der Auseinandersetzung mit dem unbändigsten aller Motive lag: dass seine malerische Bewältigung ihm die internationale Anerkennung brächte. Picasso hatte es ihm vorgemacht. Das Seestück, das gute alte, es war populär, bis hinein in den Anfang des 20. Jahrhunderts.

Wie sehr, das demonstrierte vorzüglich eine Ausstellung der Hamburger Kunsthalle vor zwei Jahren mit dem Namen „Seestücke. Von Caspar David Friedrich bis Emil Nolde“. Sie bot zur Überraschung aller Interessierten zum ersten Mal einen umfassenden Überblick des Meeresbildes von der Romantik bis zum Expressionismus und damit eine ungekannte Sicht auf ein verkanntes Genre. Mit einer prachtvollen Bilderausstattung zeigte sie, wie das Seestück anfangs des 19. Jahrhunderts zuerst Ausdruck eines errettenden „Zurück zur Natur“ war, dann gefühlvoll schmachtendes Andachtsbild gegen die Schrecken der aufziehenden Industrialisierung und schließlich gravitätische Feier der Errungenschaften von Seefahrt und Technik.

In diesem Tagen eröffnet im selben Haus eine neue Schau, und sie beginnt dort, wo die erste endete – „Seestücke. Von Max Beckmann bis Gerhard Richter“. Mit erkennbarem Vergnügen am Erfolg konzipierten die Kunsthistoriker Martin Faass und Felix Krämer und ihre Mitarbeiter die Fortsetzung ihrer Rehabilitation eines Genres, haben ihre Idee zu Ende gedacht gewissermaßen, und was sie hierfür nach Hamburg holten, ist geeignet, dem Seestück einen neuen, deutlich prominenteren Stellenwert in der zeitgenössischen Kunstwahrnehmung zu verschaffen. Mit der Opulenz von mehr als 100 Werken aus Malerei und aus Installations-, Foto- und Videokunst korrigieren sie den bislang weithin unterschätzten Stellenwert des Meeresbilds im 20. Jahrhundert.

„Seestücke 2“ legt einen Ariadnefaden durchs Labyrinth der individuellen Konzeptionen von Naturabbildung der künstlerischen Moderne. Sie zeigt die von der mediterranen Sonne bestimmten Strandlandschaften von Max Beckmann, Lyonel Feiningers Architekturen der Meeresstille, Paul Klees luftige Dampfer- und Segelbootfantasien sowie die surrealistischen Deutungen durch Max Ernst. Otto Dix, Karl Hubbuch und Franz Radziwill üben sich in ihrer neuen sachlichen Haltung. Neben einigen beinahe vergessenen Künstlern ergänzen diese erste Abteilung selten gezeigte Gemälde des Malers und Dichters Joachim Ringelnatz, der dem Seestück (den eher raren) Humor beibringt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind es Künstler wie Willi Baumeister und Nicolas de Staël, die den historischen Bildtyp in die Abstraktion überführen. Ihnen folgt die Pop-Art mit Andy Warhol und Roy Lichtenstein, deren Arbeiten die durch Werbung und Medien transportierten Bilder der kalifornischen Küste als Klischees entlarven. Ende der sechziger Jahre malt Gerhard Richter seine ersten großformatigen Seestücke, deren melancholische Unschärfe die Meereslandschaft ins Ideal entrückt. Und der Konzeptkünstler Bas Jan Ader verschwindet 1975 als Teil eines Projekts auf rätselhafte Weise bei dem Versuch einer Atlantiküberquerung. Wiederum später kontrastieren die fotografischen Meditationen von Hiroshi Sugimoto mit Massimo Vitalis belebten Strandaufnahmen aus den 1990er Jahren. Zu den maritimen Werken aus der jüngsten Zeit schließlich gehören Installationen und Gemälde von Anselm Kiefer, großformatige Kohlezeichnungen von Robert Longo sowie fotografische Arbeiten von Elger Esser und Sven Johne. Zu sehen ist in der Ausstellung außerdem Videokunst von Tacita Dean, Elmar Hess, Jeroen Offermann und anderen, die sich auch digital an der künstlerischen Erfassung des Meeres versuchen.

So vielfältig die Wahrnehmungen dieser „immense désordre“ sind, sie zeigen vor allem dies: Max Beckmann und Gerhard Richter sind die zeitlichen Antipoden einer Epoche, in der das klassische Motiv des Seestücks zerfällt. Denn anders als in vergangenen Zeitaltern der breiten Strömungen und formalen Stile zeitigt das Meeresbild in der Kunst des 20. Jahrhunderts ebenso viele Spielarten wie die Kunst der Moderne und der Gegenwart überhaupt, sie stellt in den unterschiedlichen Konzepten der Künstler sogar die Meereslandschaft grundsätzlich zur Disposition. Die kollektive Naturanschauung, wie sie über Jahrhunderte betrieben wurde, und ihr daraus resultierender populärer künstlerischer Ausdruck, das alte Seestück – es gibt es nun nicht mehr. (Bestenfalls bleibt es erhalten als Ikone der Werbeindustrie.)

Die Erklärung hierfür mag in der Entzauberung der menschlichen Erfahrungswelt liegen. Nicht die technische Errungenschaft oder die naturwissenschaftliche Erkenntnis, auch nicht die Entdeckung des Unterbewussten und mit ihr der Blick ins individuelle Innere sind zu Erklärungen über die natürliche Existenz imstande. So wächst nach und nach die Entfremdung zwischen Mensch und Natur ebenso wie die Angst vor ihrem Ende, die Natur büßt ihre hergebrachte Verlässlichkeit ein – was zugleich die Chance bietet, Wege zu neuen Standpunkten zu begehen. Die Hamburger Ausstellung führt uns vor Augen: Das alte Seestück ist tot, es lebe das neue Seestück.

„Seestücke. Von Max Beckmann bis Gerhard Richter“, Hamburger Kunsthalle, Hubertus-Wald-Forum. 8. Juni bis 16. September, Di bis So 10 bis 18 Uhr, Do 10 bis 21 Uhr. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog. Über das breitgefächerte Rahmenprogramm zur Ausstellung gibt www.hamburger-kunsthalle.de Auskunft.

mare No. 62

No. 62Juni / Juli 2007

Von Karl J. Spurzem

Karl J. Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.

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Vita Karl J. Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.
Person Von Karl J. Spurzem
Vita Karl J. Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.
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