Die Segelyacht

Eine Kurzgeschichte von David Markisch

Auf dem Trachtenberg-Boulevard waren viele Leute unterwegs. Fußgänger in Paaren, in Gruppen und allein, Invaliden, in ihren Rollstühlen sitzend. Manche von ihnen schoben eine Konstruktion vor sich her, die aussah wie ein mobiler Fahnenmast mit einem baumelnden Infusionsbeutel daran. Man begegnete Verliebten, die sich an den Händen hielten. Mittendrin kurvte ein Fahrradfahrer herum. Ein Kind auf Rollschuhen flitzte vorbei. Es war Hauptverkehrszeit.

Der Boulevard durchschnitt das Gebäude des „Tel Me’ir“-Krankenhauses in seiner ganzen monströsen Breite. Es war streng genommen ein Korridor, auf dessen einer Seite sich die Krankenstationen befanden und auf dessen anderer Seite die Operationssäle, Labors, Forschungszentren, Wirtschaftsabteilungen, Cafés und Geschäfte lagen, in denen man Blumen, Geschenke, Bücher und Kuchen kaufen konnte. Wenn man Lust hatte, konnte man diesen überdachten Durchgang natürlich als Boulevard bezeichnen. Doch wer eigentlich dieser Trachtenberg war und wodurch er sich hervorgetan hatte, wurde nicht aufgeklärt. Auf emaillierten Schildchen stand weiß auf Blau „Trachtenberg-Boulevard“ und sonst nichts.

Mehr als wahrscheinlich war, dass dieser der breiten Masse unbekannte Trachtenberg für den Bau des Korridors Geld gegeben hatte. Solche Fälle sind nicht selten: Im „Tel Me’ir“-Krankenhaus sind ganze Abteilungen mit Spenden gebaut, ganz zu schweigen von den kleinen Parks in der Krankenhausanlage oder den wunderlichen Skulpturen, welche die Rasenflächen und Grünstreifen zieren. Die Juden opfern gern etwas zugunsten von Krankenhäusern. Wer gibt, dem wird gegeben, das ist ja bekannt.

Ungefähr in der Mitte des Boulevards befand sich rechter Hand das Café „Robespierre“. Auf einem Schild war der blutrünstige Franzose vor einer Guillotine von Künstlerhand dargestellt. Sein Gesicht blickte zornig. Mit ausholender Geste zeigte der Unbestechliche auf den Eingang zu dem Etablissement und forderte die Passanten auf, unverzüglich einzutreten. An runden Tischchen tranken die Patienten und deren Besucher Kaffee und qualmten ihre Zigaretten.

Auch hier stand in einer Ecke eine Skulptur, um das ästhetische Gefühl derer zu wecken, bei denen es eingeschlummert war. Der Künstler – Jerry Druker aus Chicago, Staat Illinois – hatte offensichtlich nicht wenig berappt, damit sie hier aufgestellt wurde, in einem Krankenhaus, am Rande des Untergangs. Die Skulptur bestand aus zusammengenieteten, durchlöcherten Blechen – ein flaches Gebilde mit verzweigten Gliedmaßen. Es war die Darstellung eines bösartigen und gefährlichen Wesens. Im oberen Teil ragte auf bizarre Weise ein scharfer, gerader Schnabel hervor. So ein schräger Vogel hätte ohne Weiteres das Resultat einer romantischen Beziehung zwischen zwei Helden aus dem russischen Märchen sein können: Koschtschej dem Unsterblichen und der Hexe Baba Jaga.

Dafür wurden die religiösen Gefühle der Patienten in keiner Weise verletzt; die Skulptur hatte nichts gemein mit der sündigen figurativen Welt. Hätte der Besitzer des „Robespierre“ eine armlose Venus von Milo oder Michelangelos David aufgestellt – die hätten hier keine Stunde gestanden. Die Rabbiner, die in drei Schichten über die strikte Einhaltung der Traditionen im Krankenhaus wachten, hätten einen Skandal losgetreten. Und wirklich, dieser David mit seinem unbeschnittenen Pimmelchen – er ist doch auch ein Bildnis, das man sich nicht machen soll. Was an ihm ist besser als am Goldenen Kalb in der Wüste der Sinai? Überhaupt nichts.

Ljonja Schor-Tabatschnik von Station 4 saß der Skulptur gegenüber und starrte sie ausdruckslos an. Der Mensch ist kein Hund, der Mensch gewöhnt sich an alles – und Ljonja hockte hier schon anderthalb Monate über seinem Kaffee, tagaus, tagein, und vor ihm lag unausweichlich der Weg aus dem „Tel Me’ir“ in die geschlossene Heilanstalt „Migdal Nachum“, die sich in der Wildnis von Obergaliläa befindet, im Land der Mandelbäume. Diese Perspektive fand Ljonja nicht erfreulich, doch verdross sie ihn auch nicht; wo er seine Lebenszeit verbrachte, war ihm egal. Auf Station 4 für Psychiatrie galt er als ruhig, sodass man ihn in den Mandelwäldchen kaum zu den Tobsüchtigen stecken würde. Durch das metallene Ding des Bildhauers aus Chicago konnte Ljonja deutlich das sandige Ufer des saphirblauen Meeres und eine weiße Segelyacht auf einem hölzernen Dock erkennen. Von anderen Visionen – Hexen oder Dämonen – wurde er niemals heimgesucht.

Einer Segelyacht war Ljonja bei dem amerikanischen Schriftsteller Hemingway begegnet, an der Stelle, wo die junge Brett einer Rennyacht ähnelt – er verliebte sich auf der Stelle in sie. Er verliebte sich so sehr wie ein gewisser Kopjonkin bei einem anderen großen Schriftsteller, Platonow. Dieser Kopjonkin, ein Ritter neuen Schlages, entbrennt in leidenschaftlicher Liebe zur Revolutionärin Rosa Luxemburg, welche freilich längst von uns gegangen ist. Und so wurde die Segelyacht zu Ljonja Schor-Tabatschniks Traum; er wollte sie besitzen oder sie wenigstens berühren.


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mare No. 81

No. 81August / September 2010

Aus dem Russischen übertragen von Beate Rausch

David Markisch wurde 1939 in Moskau geboren. Sein Vater, der jüdische Schriftsteller Perez Markisch, wurde 1952 als Vaterlandsverräter erschossen. 1972 emigrierte er nach Israel. Seine Romane erhielten viele internationale Auszeichnungen.

Beate Rausch, geboren 1955, studierte Slawistik und Germanistik und übersetzt russische Literatur ins Deutsche, u.a. Viktor Jerofejew, Anton Tschechow, Daniil Charms. Sie lebt in Ulm, St. Petersburg und Triest.

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Vita David Markisch wurde 1939 in Moskau geboren. Sein Vater, der jüdische Schriftsteller Perez Markisch, wurde 1952 als Vaterlandsverräter erschossen. 1972 emigrierte er nach Israel. Seine Romane erhielten viele internationale Auszeichnungen.

Beate Rausch, geboren 1955, studierte Slawistik und Germanistik und übersetzt russische Literatur ins Deutsche, u.a. Viktor Jerofejew, Anton Tschechow, Daniil Charms. Sie lebt in Ulm, St. Petersburg und Triest.
Person Aus dem Russischen übertragen von Beate Rausch
Vita David Markisch wurde 1939 in Moskau geboren. Sein Vater, der jüdische Schriftsteller Perez Markisch, wurde 1952 als Vaterlandsverräter erschossen. 1972 emigrierte er nach Israel. Seine Romane erhielten viele internationale Auszeichnungen.

Beate Rausch, geboren 1955, studierte Slawistik und Germanistik und übersetzt russische Literatur ins Deutsche, u.a. Viktor Jerofejew, Anton Tschechow, Daniil Charms. Sie lebt in Ulm, St. Petersburg und Triest.
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