Die schöne Unberechenbare

Nur wenige Landschaften ziehen ihre Besucher mehr in den Bann als Islands kalte, monumentale Kargheit. Die mythischen Einöden und ihre überraschend heiteren Bewohner zeigt der neue mare-Bildband „Island“ in bislang ungesehener Weise

Keine vier Flugstunden ist Island von der Mitte Europas entfernt. Doch die Insel im eiskalten Atlantik erscheint nicht nur jenen, die sie nie besucht haben, als selten fremd und fern: Gletscher, Vulkane, Lavawüsten, unberechenbare, unwirtliche Natur. Aber auch: glasklare Wasserfälle, sattes Grün und Regenbogen, Mythen, verzaubertes Land. Dazu eine Hauptstadt, immer wieder ausgerufen als überraschende Trendmetropole. Das sind die Versatzstücke gängiger Vorstellungen von Island. Man kann nur ahnen, welche Kraft sich dahinter versteckt. Und was es für die 300 000 Menschen, die dort leben, bedeutet, den Elementen derart ausgeliefert zu sein. Sie überstehen monatelange Vulkanausbrüche und Lavaströme, sie wissen, wie man 5000 Menschen in sechs Stunden von einer Insel evakuiert, sie ersetzen regelmäßig Brücken und Teile ihres wichtigsten Verkehrswegs rund um die Insel, der Ringstraße 1, wenn wieder einmal ein Gletschersee überläuft.

Zwischen dem siebten und neunten Jahrhundert segelten die ersten Mutigen übers Meer, um in Island zu siedeln. Ein Norweger, Flóki Vilgerðarson, soll dem „Eisland“ seinen Namen gegeben haben, obwohl es damals mancherorts weniger kahl und kalt aussah als heute. Ein Drittel des Landes war früher von Birken bewachsen. Und auch sonst waren die Lebensbedingungen besser, als sie aus einer gegenwärtigen Perspektive betrachtet erscheinen mögen. Das Land war unbewohnt, es musste nicht mühsam erobert werden, und es lieferte ausreichend zu essen: Vögel, Robben, Fisch. Letzteren gab es immer reichlich, die Fischereiindustrie hat den Wohlstand der Nation begründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa am Boden lag und Nahrungsmittel knapp waren, begann Islands wirtschaftlicher Aufstieg, unterstützt von den Vereinigten Staaten, deren militärischen Schutz das Land genoss und von deren technischem Wissen und Gerätschaften die Fischernation profitierte. Die reichen Ressourcen aus dem Meer und die isolierte Insellage zwischen Europa und Amerika sind Unterpfänder jenes unabhängigen Geistes, der Island und die Isländer mit einiger Gelassenheit durch naturgewaltiges Chaos und jede Krise trägt. Die nächsten Nachbarn leben in Grönland, 300 Kilometer entfernt. Es gibt wohl keine besseren Laborbedingungen, um einen eigensinnigen Menschenschlag zu züchten.

Die unberechenbare Welt, die sie umgibt, hat die Isländer Gleichmut gelehrt, aber auch die haltlose Liebe zum Augenblick. Wer von klein auf erlebt, wie ein sonnig strahlender Himmel binnen Sekunden im Schneesturm verschwindet, wer das atemberaubende Tempo aufziehender Nebelwände kennt und die Leichtigkeit, mit der ein Gletscherfluss Autos mitsamt Straße wegschwemmt, der feiert ekstatisch Feste, wie sie fallen, und nimmt ansonsten Zuflucht zu dem isländischen Sprichwort: þetta red dast, es rettet sich schon. Island und seine Bewohner, sie sind einander Spiegelbild auf eine sehr eigenwillige, einzigartige Weise; selbst in den angesagten Clubs in Reykjavík glaubt man die Energie zu spüren, die aus dem Inneren der Erde kommt. Zwei ebenso einzigartige Fotografen sind für den neuen mare-Bildband „Island“ auf mehrere Reisen gegangen, um Menschen und Natur in Bilder zu bannen.

Die 1967 in Duisburg geborene Fotografin Heike Ollertz hat bereits in ihrem ersten mare-Bildband „Irland“ sowie in vielen Reportagen für mare den souveränen Umgang mit ihrer handgefertigten Alpa-Kamera bewiesen. Kaum jemand versteht es besser, mit einer schweren, großen Mittelformatkamera Tag und Nacht, winters wie sommers, bei Regen und bei Schneesturm, mit großer Geduld für das richtige Licht und die perfekte Schärfe Landschaften, Häuser oder Häfen zu fotografieren. Heike Ollertz hat ihren Islandbildern eine geheimnisvolle Größe verliehen, die sich nicht auf romantisierende Oberflächlichkeiten verlässt.

Auch Edgar Herbst ist dem Land unvergleichlich nahegekommen. Der 1961 im Harz geborene Fotograf hat große Teile seines beruflichen Lebens den nächtlichen Feiern glamouröser Gesellschaften gewidmet. Seine Schwarz-Weiß-Bilder dringen tief ein in menschliche Momente. Und ob er Fischer, Werftarbeiter, Hochzeitspaare oder urbane Nachtschatten fotografiert, immer scheint Herbst sich gleichsam selbst aufzugeben und fallen zu lassen, hinein in das Gesehene und das Gefühlte.

mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Heike Ollertz, Edgar Herbst und Martina Wimmer

Beide Fotografen reisten mehr als sechs Monate durch Island. Heike Ollertz in Allradfahrzeugen und schwankenden Booten, um exakt im richtigen Augenblick die Eisberge vor der Aurora Borealis, den Nordlichtern, festzuhalten,

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Vita Beide Fotografen reisten mehr als sechs Monate durch Island. Heike Ollertz in Allradfahrzeugen und schwankenden Booten, um exakt im richtigen Augenblick die Eisberge vor der Aurora Borealis, den Nordlichtern, festzuhalten, Person Von Heike Ollertz, Edgar Herbst und Martina Wimmer
Vita Beide Fotografen reisten mehr als sechs Monate durch Island. Heike Ollertz in Allradfahrzeugen und schwankenden Booten, um exakt im richtigen Augenblick die Eisberge vor der Aurora Borealis, den Nordlichtern, festzuhalten, Person Von Heike Ollertz, Edgar Herbst und Martina Wimmer