Die Schiffe meines Vaters

Wenn der Traum von einer Existenz als Seefahrer unerfüllbar ist, bleibt immer noch das Reich der Imagination

Schiffe waren alles, was die Welt bedeutete. Sie waren schwimmende Altäre einer Magie, die nur versteht, wer am großen Wasser aufgewachsen ist. Für eine Zeit meiner Jugend waren sie die Gestalt gewordene Essenz meiner Sehnsucht nach realer Unendlichkeit, nach der Vereinigung meines Körpers mit dem Rhythmus der Wellen, nach dem Geruch einer von Salz und Seetang gewürzten Freiheit, nach endlosen Horizonten mit Himmeln voller Nolde-Wolken und Sonnenuntergängen hinter fremden Gestaden.

In der Erinnerung dehnt sich die Epoche der maritimen Schwärmerei über Jahre. Vielleicht nur deshalb, weil die obligatorischen Ferien an der Schlei meinen Geist und meine Hände stets zum manischen Gebrauch eines Schnitzmessers anregten. Jedes brauchbare Stück Treibholz an den schmalen Stränden musste in ein Schiffsmodell transformiert werden, um mich selbst dabei in andere Zeiten und ungesehene Welten zu hypnotisieren.

Zum Ferienende waren die Ergebnisse des Wahns meistens zu einer Flotte angewachsen. Größere, kleinere, meistens Segelschiffe, eine Schaluppe, ein Kutter, eine Bark und auch einmal ein Dampfer oder Küstenmotorschiff, geschnitzt, geschmirgelt, mit Wasserfarbe bemalt und mit Lack versiegelt.

Das liegt jetzt eine Ewigkeit zurück, verklärt von der Zeit. Es gibt keine Fotos, kein Relikt aus dieser Zeit. Aber es gibt eine andere sehr reale Erinnerung an den Ursprung meiner Leidenschaften: die Schiffe meines Vaters.

Er, von dem ich zweifellos die Liebe zum Maritimen geerbt haben muss, hinterließ mir seine Flotte, die er in den Jahren nach seiner Pensionierung Schiff für Schiff, Jahr um Jahr, vom Stapel gelassen hatte. Nicht die Anzahl, nur ein Dutzend, ist von Bedeutung, es ist die besondere Art der Herstellung, einerseits geprägt von professionellem Wissen und akribischem Studium der Details, belegt durch einen ganzen Bücherschrank voll unterschiedlichster Werke über Seefahrt und Schiffskonstruktion, andererseits durch einen Mangel an handwerklichem Wissen und manueller Routine, den er mit Geduld und hoher Toleranz bei unabwendbaren gelegentlichen Missgeschicken auszugleichen verstand.

Viele Jahre führte die Hinterlassenschaft eine Schattenexistenz in einem Lagerraum, vor Einflüssen von Licht und Feuchtigkeit in einem Schrank geschützt, vergessene Meisterstücke im Museumskeller. Ein Filmprojekt hatte die Schiffe meines Vaters eines Tages als Statisten wieder ins Licht der Wahrnehmung gezogen, aus den Tiefen der Erinnerung in die Gegenwart gespült.
Da saß er, im Wohnzimmer an seinem Arbeitstisch, hinter ihm eine Wand voller Bücher über die Welt, die Wissenschaften, Literatur und Kunst, ein Ingenieur, ein Zimmermann, ein Seiler, ein Segelmacher, ein Großreeder im Reich der realen Fantasie, ein Kapitän im Auftrag der Imagination, ein Sindbad, Kolumbus, Magellan auf den Meeren der Träume, trunken von der Vorstellung eines Lebens im nie endenden Auf und Ab der Wellen, in der Gischt, mit Ölzeug und Südwester in den Orkanen vor Kap Hoorn, mit Schneestürmen im Atlantik, unter glühender Sonne in den Gewässern der Tropen, mit Landungen in exotischen Häfen und Abenteuern in nie gesehenen Ländern.

Die Schiffe meines Vaters: auf dem Tisch akribische Zeichnungen, Kurven von Spanten, Querschnitte, Verankerungen der Masten, Aufbauten, mit Farbstiften oder Aquarelltinten kolorierte Detailstudien von Galionsfiguren und Flaggen, alles mit einer Stahlfeder gezeichnet. Einige Striche, die Feder wieder kurz ins Tintenfass, und weiter schraffieren, alles ohne einen einzigen Klecks. Die Grundlagen der Materie hatte er sich im Studium erworben, ein Schiffbauingenieur, der diesen Beruf im Nachkriegsdeutschland nicht hatte ausüben können. Ein Handwerk hatte er nicht erlernt, hätte nie ein einfaches Ruderboot zimmern können, einen Stuhl reparierte er mit Dutzenden Nägeln, die kaum mehr als vorübergehende Verbesserung garantierten.

Aber in einem anderen Maßstab wuchs er über sich hinaus. Seine Fähigkeit, das Schnitzmesser unter Verwendung einer Lupenbrille chirurgisch präzise zu führen, verbesserte sich in Potenz zu der Zahl der Modelle. Winzige Paddel aus Eichenfurnier bekamen ihre letzten Konturen unter Einsatz von Rasierklingen, Miniaturkisten wurden mit Nägeln aus verkürzten Stecknadeln komplettiert, die Ruderanlage mit einer Pinzette montiert, Seidenfäden zu rollendem Gut unterschiedlichster Stärken verdrillt, verflochten und geölt, um in der Takelage Anwendung zu finden und zu Strickleitern verknotet zu werden.


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mare No. 132

No. 132Februar / März 2019

Von Ulrich Magnus Hammer

Ulrich Magnus Hammer, Jahrgang 1945, ist bildender Künstler, Schriftsteller und Musiker. In den 1970er-Jahren war er Mitglied der in Berlin gegründeten Kultband Ton Steine Scherben, als Schriftsteller veröffentlichte er Romane (Die Akte Serkassow) sowie Essays und Feuilletons. Seit 2010 konzentriert Hammer seine Erfahrungen in verschiedenen Kunstrichtungen in der Produktion von Video Art Works und Videoinstallationen.

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Vita Ulrich Magnus Hammer, Jahrgang 1945, ist bildender Künstler, Schriftsteller und Musiker. In den 1970er-Jahren war er Mitglied der in Berlin gegründeten Kultband Ton Steine Scherben, als Schriftsteller veröffentlichte er Romane (Die Akte Serkassow) sowie Essays und Feuilletons. Seit 2010 konzentriert Hammer seine Erfahrungen in verschiedenen Kunstrichtungen in der Produktion von Video Art Works und Videoinstallationen.
Person Von Ulrich Magnus Hammer
Vita Ulrich Magnus Hammer, Jahrgang 1945, ist bildender Künstler, Schriftsteller und Musiker. In den 1970er-Jahren war er Mitglied der in Berlin gegründeten Kultband Ton Steine Scherben, als Schriftsteller veröffentlichte er Romane (Die Akte Serkassow) sowie Essays und Feuilletons. Seit 2010 konzentriert Hammer seine Erfahrungen in verschiedenen Kunstrichtungen in der Produktion von Video Art Works und Videoinstallationen.
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