Die scheuen Räuber der Meere

Neue Erkenntnisse der Zoologie

Was haben Elektrosmog, Satellitennavigation und driftende Eisberge gemeinsam? Sie stehen wegen der neuesten Erkenntnisse über das Verhalten und die Biologie von Haien in Verbindung. Verhaltensforscher versuchten in den vergangenen Jahren, das Bild des gefräßigen Schreckens der Meere, die Legende des sofort zuschnappenden Menschenfressers mit neuen Erkenntnissen zu entkräften. Demnach sind Haie eigentlich sehr sensible Geschöpfe. Es sind vielmehr die Menschen, die skrupellos ihre faszinierenden Erdmitbewohner bis zur Ausrottung jagen.

Haie – das Wort entstammt vermutlich dem isländischen „hai“ für Ruderrolle, das englische „shark“ dagegen dem deutschen „Schurke“ – sind eine seit 400 Millionen Jahren an das Leben im Ozean perfekt angepaßte Tiergruppe. Wissenschaftlich gehören die Haie zu den Knorpelfischen (Chondrichthyes), bei denen es sich nicht um (Knochen-)Fische im engeren Sinne handelt. Sie zählen zu den erdgeschichtlich ältesten Wirbeltieren mit einem Kieferapparat. Die Vorfahren der Haie waren zwar Knochenfische, aber im Laufe der Evolution setzten sich die zähen und elastischen Knorpel im Skelett der Haifische gegenüber den Knochen durch.

Für das Jagen in den blauen Weiten des Ozeans zeigen sie die vollkommensten Sinnesorgane, die die Natur hervorgebracht hat. Das Auge sieht im Nahbereich etwa zehnmal besser als das des Menschen – ausnahmsweise hatte Jules Verne einmal unrecht, als er behauptete, Haie könnten schlecht sehen. Eine von unten hochfahrbare Nickhaut schützt das Auge außerdem vor eventuellen Verletzungen beim Zerbeißen der Beute. Für nächtliches Sehen und das Sehen in den dunklen Meerestiefen sorgt eine zusätzliche Spiegelschicht, das Tapetum lucidum hinter der Netzhaut, als Restlichtverstärker – ähnlich wie bei Katzen, so daß die Augen grünlich irisieren.

Die „schwimmenden Nasen“ nehmen noch die Richtung von einem Tropfen Blut in 1 Million Liter Wasser wahr, genug, um mit chemischem Schnüffeln der Duftspur bis zur zappelnden Quelle zu folgen. Haie hören tiefe Töne über Kilometer, und mit ihrem sensiblen Seitenlinienorgan können sie den Wasserdruck von weit vorbeischwimmenden Fischen spüren.

Besonders bemerkenswert ist der sechste Sinn der Haifische in den Lorenzinischen Ampullen, gelatinöse Gänge, die auf der Kopfunterseite münden. Dieses Organ erkennt noch elektrische Felder bis zu einem fünfmilliardstel Volt pro Zentimeter, Strom wie aus einer für uns vollkommen leeren Batterie. Dem Hammerhai entgeht somit dank seiner im Vergleich zu anderen Haien vergrößerten Kopfantenne nicht einmal der elektrische Muskelschlag eines im Boden eingegrabenen Fisches.

Auf der Jagd stoßen die torpedoförmigen Makohaie (Isurus oxyrinchus) bis zu 70 Kilometer schnell durch den offenen Ozean oder springen meterhoch in die Luft. Die starke vertikale Schwanzflosse und der wendige Schwimmstil ermöglichen solche rasanten Geschwindigkeiten. Zu der perfekten hydrodynamischen Körperform kommt noch die spezielle Haihaut. Diese ist mit mikroskopisch kleinen Hautschuppen (Placoidschuppen) versehen, die ähnlich wie Zähne aufgebaut sind. Dies minimiert durch den entstehenden Wasserfilm den Reibungswiderstand beim Schwimmen. Das Prinzip ist so effizient, daß künstliche „Haihäute“ für Flugzeuge entwickelt wurden, um so den Luftwiderstand zu senken und Treibstoff einzusparen.

Das Gebiß öffnet sich im entscheidenden Moment mit fünf stahlharten, messerscharfen Zahnreihen. Damit die Beute ja nicht entkommt, ist der Kiefer ausdehnbar. Er ist nicht fest mit dem Schädel verbunden und wird beim Zupacken ein Stück aus dem Kopfbereich hervorgeschoben. Die mörderischen Zähne gelten als die Urformen der Zahnbildungen bei Wirbeltieren und sind, obwohl vom Aufbau ähnlich wie die kalkigen Hautschuppen, als eigene Entwicklung anzusehen. Beim Tigerhai (Galeocerdo cuvieri) und anderen Arten sind sie seitlich gekrümmt und wiederum gezähnt. Führt der Hai schüttelnde Bewegungen beim Beißen durch, wirken sie wie eine Säge und vermögen selbst Knochen zu durchtrennen. Und beneidenswerterweise können die Haie die abgenutzten Zähne relativ einfach durch neue ersetzen. In ihrem sogenannten „Revolvergebiß“ liegen mehrere Zahnreihen als Reserve übereinander und ersetzen sich fortlaufend. Im ersten Lebensjahr mancher Haiarten gibt es so alle acht bis 14 Tage neue Zähne. In zehn Jahren verbraucht ein Tigerhai an die 1400 Stück.

Trotz dieser Perfektion fürs Fressen finden Haie Menschen eklig, „Geschmacksproben“ werden schnell ausgespuckt und sind schlecht verdaulich. Die angebliche Heimtücke, Aggressivität und Gefräßigkeit dieser Raubfische gehört daher in den Bereich der Fabeln. Haie sind scheue Tiere, die meist das Weite suchen, wenn man ihnen begegnet. Sind sie manchmal doch neugierig und kommen Tauchern recht nahe, muß dies noch nichts Schlimmes bedeuten. Selbst der als so überaus gefährlich eingestufte weiße Hai (Carcha-rodon carcharias) reagiert eigentümlich friedfertig auf die Gebärdensprachen eines Tauchers. Der Schweizer Verhaltensbiologe Erich Ritter, der ohne Schutz mit Haien taucht, glaubt sogar, daß eine Kommunikation zwischen Mensch und Hai möglich sei. Er hat einen Verhaltenskodex von Schwimmbewegungen (z. B. „Arme hoch“) entwickelt und testet, ob durch ihn Haie vom Zubeißen abgehalten werden können.

Aber die Biologie und das Verhalten der meisten Haie ist längst nicht alles bekannt. Um die 400 Arten dieser Knorpelfische aus 30 Familien sind bisher von Zoologen beschrieben worden. Der kleinste Haifisch, der Zwerghai (Squaliolus laticaudus), wird nur knapp 25 Zentimeter groß und jagt in Rudeln im offenen Ozean. Der größte, der Walhai (Rhiniodon typus, siehe in diesem Heft S. 80), erreicht mit über 12 Metern Länge und 14 Tonnen Gewicht gigantische Ausmaße. Haie kommen in fast allen Weltmeeren und selbst im Süßwasser des Amazonas oder Ganges, weit entfernt von der Küste, vor.

Während sich große Schwärme von Dornhaien (Squalus acanthias) in der Tiefsee zum gemeinsamen Jagen zusammenfinden, ist der weiße Hai meist ein Einzelgänger. Auch die Weibchen wandern aus Schutz vor ihren gefräßigen Artgenossen einzeln in die seichten Küstenzonen und Mangrovenwälder, um ungestört zu gebären. Haie sind nämlich im Gegensatz zu den Knochenfischen um ihren Nachwuchs äußerst besorgt. Statt Millionen von Eiern ins Wasser freizulassen, findet bei den Knorpelfischen eine innere Befruchtung statt, und nur wenige Jungen werden ausgetragen.

Zwei Typen der Fortpflanzung lassen sich unterscheiden. Beim einen Typ, der Oviparie – wie zum Beispiel beim Katzenhai (Scyliorhinus canicula) –, werden die Eier in hornigen Kapseln am Meeresboden abgelegt, und die Embryos befreien sich nach einigen Monaten aus ihren Hüllen. Die leeren Reste lassen sich dann an Stränden finden. Andere Arten sind vivipar, lebendgebärend. Die Nachkommen reifen teils bis zu 22 Monate lang im Bauch der Weibchen heran. Ein besonderes Phänomen bei Haien ist die Embryophagie, das Fressen der Embryonen untereinander. Obwohl es grausam erscheinen mag, wenn schon die jüngsten Haie im Mutterbauch sich verschlingen, werden so doch nur die Kräftigsten in die Welt entlassen.

Die Paarung der Haie ist nicht besonders friedfertig. Das Männchen beißt das Weibchen, um ihren letzten Widerstand zu brechen. So können tiefe Wunden entstehen; vorsorglich ist die Haut der Weibchen dicker ausgebildet. Dann legen sich die Partner für kurze Zeit seitwärts am Boden ab, und das Männchen versucht, das Weibchen zu umklammern, um eines seiner beiden Begattungsorgane, der Klasper, einzuführen.

Wo und wann die Fortpflanzung stattfindet, ist bei den bis zu 70 Jahre alt werdenen Haien nur für wenige Arten entschlüsselt. So treffen sich Hunderte von pazifischen Walhaien (Rhincodon typus) anscheinend immer nur vor Australien zur Balz und müssen somit über genaue Ortskenntnisse im weiten Ozean verfügen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 14. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Onno Groß

Onno Groß, 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. In mare No. 11 beschrieb er die Segelqualle Velella velella.

Mehr Informationen
Vita Onno Groß, 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. In mare No. 11 beschrieb er die Segelqualle Velella velella.
Person Von Onno Groß
Vita Onno Groß, 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. In mare No. 11 beschrieb er die Segelqualle Velella velella.
Person Von Onno Groß