Die Rache des Kabeljaus

Lebertran, der Albtraum aller Kinder, hat ausgedient

Lebertran ist die heimliche Rache der Meeresbewohner am Menschen. Wahrscheinlich erziehen Dorsch-Eltern ihren Nachwuchs noch heute in dem Bewusstsein, nach dem Tode das nackte Grauen bei Menschenkindern auszulösen. Der kategorische Imperativ des Kabeljaus, auch Dorsch genannt, lautet: „Wenn wir schon sterben müssen, damit sie unsere Leber auskochen können, wollen wir wenigstens schlecht schmecken!“

Ein Schlucken, ein Würgen, will man nur das Wort aussprechen, ausspucken, ausbrechen: Lebertran! Mund auf, Augen zu – und runter damit! Erzählungen der Älteren von der täglichen Lebertranverabreichung – „scheußliche Prozedur“, „ekelhaft“, „widerlich“ – sind zum modernen Mythos geworden. Aus der Tube, aus der Flasche, gelb, braun, schwarzbraun: Echter Lebertran ist immer schlimm.

Generationen von bemitleidenswerten Kindern stellten die Frage: Warum können Sachen, die gesund sind und über den Winter helfen, nicht nach Nudeln mit Tomatensoße schmecken? Naserümpfen und zugekniffene Augen helfen nur eine Schrecksekunde lang, dann steht dem Trantrinker alles Unheil dieser Welt mitten ins Gesicht geschrieben.

Was kümmern den Menschen des dritten nachchristlichen Jahrtausends noch Krankheiten wie Rachitis, Lungenschwindsucht, Zuckerruhr und allgemeine Kraftlosigkeit, gegen die das klebrige Zeug hilft? Wofür sind heute Vitamin A, Vitamin D3 und die wertvollen Omega-3-Fettsäuren im Lebertran nütze? Gegen Herzinfarkt, beginnende Impotenz und Thrombosen beispielsweise. „Lebertran wirkt wie ein Turbolader auf die Botenstoffe des Immunsystems“, poetisierte kürzlich Experte Dr. Rudolf Kunze auf einer Tranfachtagung in Schweden.

Meyers ehrwürdiges Konversationslexikon, erschienen um 1900, verrät: „Im Anfang der Kur erregt Lebertran oft Widerwillen, Appetitlosigkeit, selbst Erbrechen, und wenn diese Erscheinungen nicht bald verschwinden, so ist von dem Gebrauch des Trans abzusehen. Der widerliche Geschmack wird durch Pfefferminzplätzchen, auch durch Trinken eisenhaltigen Wassers gleich nach dem Einnehmen des Trans verdeckt.“ Und weiter hinten der verräterische Satz: „Technisch benutzt man Lebertran in der Gerberei.“ Auch dort hat es selten gut gerochen.

In Boy Lornsens Kinderbuchklassiker „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ geht den Reisenden beim Leuchtturmwärter Matthias der Himbeersaft im Tank des Fliewatüüts aus. Guter Rat ist teuer, Maggi-Würze, Schmieröl, Heringslake fallen als Treibstoff aus. Tobbi probiert eine zähe Flüssigkeit: „Brrrrrr – Lebertran!“, ruft er, mit mindestens sechs „r“. Prompt funktioniert das Fliewatüüt damit wieder. Später am Nordpol sehen die beiden Abenteurer sogar, wie der tolle Trank in einer „Eskimo-Lebertranfabrik“ hergestellt wird.

Lebertran ist ein Allzweckprodukt: Man kann Seife, Futtermittel oder Lampenöl daraus herstellen. Früher blieb die Dorsch- oder auch Heilbuttleber einfach in Holzbottichen in der Sonne stehen, bis der Tran sich absetzte, was unbeschreiblich stank. Im 19. Jahrhundert entwickelte der norwegische Apotheker Peter Möller ein Verfahren, um den Tran mit Hilfe von Wasserdampf zu gewinnen. Die weltgrößte Lebertranfabrik, 1854 in Oslo gegründet, trägt noch heute seinen Namen, und der Rohtran kommt von den Lofoten und Vesterålen.

Man mag melancholisch werden bei dem Gedanken, dass durch bunte Pillen, Kapseln und Getränke mit Zitronen- oder Orangengeschmack das wahre Lebertrangefühl aus Mitteleuropa verschwunden ist. Kinder, die nie Lebertran in Reinform erleiden mussten, freut es dennoch.

Dass der Lebertran durch einen wohlschmeckenden Saft namens Multi-Sanostol abgelöst werden konnte, ist ein Sieg des Verstandes und des guten Geschmacks über die barbarischen Zumutungen der Natur. Eine Menschheit, die so etwas erfindet, kann nicht ganz schlecht sein. Da jubelt auch der Autor dieses Textes, als Drogistenkind mit dem Tran-Ersatz groß geworden: ein Hoch auf Dorsch und Heilbutt für diese Erkenntnis!

mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Holger Kreitling

Holger Kreitling, Jahrgang 1964, arbeitet seit vielen Jahren bei der WELT in Berlin; seit geraumer Zeit als Reporter. Er beschäftigt sich ebenfalls mit Historie, Popkultur, Bergsteigen, Kino. Geboren und aufgewachsen im Vogelsberg in Hessen weiß er, wie prägend das Land ist, selbst wenn man den größeren Teil seines Lebens in der Stadt verbracht hat. Hörte in seiner Jugend den prägenden Satz zweier Wandergesellen: „Wir wollen noch ans Mittelmeer / nur ham mer grad kei‘ Mittel mehr“. 1986 nach dem Zivildienst ein Studium in West-Berlin angefangen, dem am weitesten von seinem Dorf entfernten Ort. Und dort geblieben. Überzeugter Hauptstädter und Kreuzberg-Anhänger mit Heimat-Faible für Eintracht Frankfurt. Hat es seitdem ans Mittelmeer geschafft, an fünf der sieben Weltmeere ebenfalls. Verheiratet, zwei Kinder.

Mehr Informationen
Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, arbeitet seit vielen Jahren bei der WELT in Berlin; seit geraumer Zeit als Reporter. Er beschäftigt sich ebenfalls mit Historie, Popkultur, Bergsteigen, Kino. Geboren und aufgewachsen im Vogelsberg in Hessen weiß er, wie prägend das Land ist, selbst wenn man den größeren Teil seines Lebens in der Stadt verbracht hat. Hörte in seiner Jugend den prägenden Satz zweier Wandergesellen: „Wir wollen noch ans Mittelmeer / nur ham mer grad kei‘ Mittel mehr“. 1986 nach dem Zivildienst ein Studium in West-Berlin angefangen, dem am weitesten von seinem Dorf entfernten Ort. Und dort geblieben. Überzeugter Hauptstädter und Kreuzberg-Anhänger mit Heimat-Faible für Eintracht Frankfurt. Hat es seitdem ans Mittelmeer geschafft, an fünf der sieben Weltmeere ebenfalls. Verheiratet, zwei Kinder.
Person Von Holger Kreitling
Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, arbeitet seit vielen Jahren bei der WELT in Berlin; seit geraumer Zeit als Reporter. Er beschäftigt sich ebenfalls mit Historie, Popkultur, Bergsteigen, Kino. Geboren und aufgewachsen im Vogelsberg in Hessen weiß er, wie prägend das Land ist, selbst wenn man den größeren Teil seines Lebens in der Stadt verbracht hat. Hörte in seiner Jugend den prägenden Satz zweier Wandergesellen: „Wir wollen noch ans Mittelmeer / nur ham mer grad kei‘ Mittel mehr“. 1986 nach dem Zivildienst ein Studium in West-Berlin angefangen, dem am weitesten von seinem Dorf entfernten Ort. Und dort geblieben. Überzeugter Hauptstädter und Kreuzberg-Anhänger mit Heimat-Faible für Eintracht Frankfurt. Hat es seitdem ans Mittelmeer geschafft, an fünf der sieben Weltmeere ebenfalls. Verheiratet, zwei Kinder.
Person Von Holger Kreitling