Die Pole schmelzen

Paradoxerweise sind die kältesten Regionen am stärksten von der globalen Erwärmung betroffen. Die Eispanzer schmelzen schneller, als die Klimatologen bisher vermutet haben

Ellesmere Island, Kanada. 800 Kilometer südlich des Nordpols bricht eine Schelfeisplatte von der Größe Manhattans weg, und niemand merkt es. Erst anderthalb Jahre später schaut Laurie Weir vom Eiswarndienst in Ottawa auf ein aktuelles Satellitenbild und stellt fest, dass an der Nordküste von Ellesmere Island ein riesiges Stück fehlt. Sie benachrichtigt die Eisforscher der Universität vor Ort, die sofort weitere Satellitenfotos anfordern und seismologische Aufzeichnungen aus der Region. Tatsächlich, die Erdbebensensoren zeigen für den Nachmittag des 13. August 2005 einen deutlichen Ausschlag, da trennte sich das Ayles-Eisschelf krachend vom kalten Panzer der Insel.

2005 war ein extrem warmes Jahr in dieser Region, die Lufttemperaturen lagen 3,5 Grad Celsius über dem Schnitt, und ein ungewöhnlicher Wind aus Süd schob das Sommerpackeis nach Norden. Normalerweise weht der Wind aus der entgegengesetzten Richtung, er drückt das Packeis auf die Küste und schützt das Schelfeis so vor dem offenen Wasser und seiner Wärme. So aber nagten die höheren Temperaturen auch von unten kräftig an dem rund 4000 Jahre alten Schelfeis. „Wir sind immer davon ausgegangen“, erklärt der Geograf Luke Copeland von der University of Ottawa in ersten Interviews, „dass die Folgen des Klimawandels sich graduell zeigen würden, dass diese Eisformationen langsam abschmelzen würden.“

Der Polarbiologe Warwick Vincent von der Laval University in Quebec flog sofort mit dem Helikopter zur driftenden Riesenscholle und kommentierte das Ereignis geradezu entsetzt: „Das Schelfeis ist eine Besonderheit des kanadischen Nordens, die Jahrtausende Bestand hatte. Die Leute reden immerzu von bedrohten Tierarten, hier geht es um bedrohte Landschaften, und wir verlieren sie.“

Die Bestürzung der Forscher spiegelte vor allem ihre Ohnmacht wider, sie haben es nicht kommen sehen, niemand hat es kommen sehen. Denn wie die Antarktis erweist sich auch der hohe Norden, und das ist die eigentliche Lehre aus diesem Fall, immer wieder als System, das nur in den Umrissen verstanden ist. Die Polarforschung ist wenig mehr als 100 Jahre alt, es liegen kaum Daten vor, aus denen man ein Gesamtbild zusammensetzen könnte. Die Vorstöße des Menschen in diese abgeschiedenen Regionen waren stets nur sporadische, es gab Entdecker, die nach neuen Seewegen suchten, und Polfahrer, die es allein auf den Punkt abgesehen hatten, wo sich die Längengrade kreuzen. Die Pioniere stießen auf Skiern in die Eiswüsten vor, sie flogen im Zeppelin zum Pol oder ließen sich mit ihren Schiffen im Packeis einfrieren. Doch nie nahmen sie mehr als eine Momentaufnahme mit. Bis heute liegen auf vielen Diagrammen und Karten, die das arktische Meer abbilden, große weiße Sektoren des Unwissens, „keine Daten verfügbar“, heißt es in der Legende.

Die Wissenslücken klaffen ausgerechnet in einem Bereich, der für die Einschätzung des Klimawandels und seiner Folgen besonders wichtig ist. Denn paradoxerweise macht sich die globale Erwärmung ausgerechnet in den kältesten Regionen der Erde am stärksten bemerkbar. Während die Oberflächentemperaturen seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts im weltweiten Mittel um 0,5 Grad Celsius gestiegen sind, legten sie in der Arktis um 1,1 Grad zu, in einigen Regionen, etwa in Alaska und Westkanada, kletterte das Quecksilber gar um 3 bis 4 Grad. Ursache ist ein Aufschaukeln verschiedener Phänomene, die sich in hohen Breiten besonders stark auswirken: Schnee und Eis haben die Eigenschaft, dass sie 85 bis 90 Prozent der Sonnenstrahlen reflektieren, sie haben eine hohe Albedo, sagen die Klimaforscher dazu, ein hohes Rückstrahlvermögen. Wo die weiße Pracht schmilzt, kommen dunklere Land- und Wasserflächen zum Vorschein, die nur 20 beziehungsweise zehn Prozent der Wärmestrahlen zurück ins All lenken – und ergo mehr Sonnenenergie absorbieren. Ein Fall von positiver, also sich selbst verstärkender Rückkopplung: Weil es wärmer wird, schwinden Schnee und Eis, was es noch wärmer werden lässt. Der Effekt wird durch den Einfluss des Ozeans verschärft. Wo das Meereis schwindet, wird mehr Wärmeenergie vom Wasser aufgenommen – und umgekehrt strahlt ein Ozean, der nicht unter einem isolierenden Eisdeckel liegt, später mehr Wärme an die Atmosphäre ab.

Grob geschätzt, ist das arktische Meereis im Sommer seit den siebziger Jahren um 20 Prozent geschrumpft, weshalb sich die Schifffahrt schon als Gewinner der globalen Erwärmung wähnt. Laut Berechnungen des Germanischen Lloyd ließe sich die Fahrtzeit von Rotterdam nach Yokohama auf dem Nördlichen Seeweg entlang der sibirischen Küste um ein Drittel reduzieren. Auf der gegenüberliegenden Nordwestpassage im Norden Kanadas sind bereits Kreuzfahrtschiffe unterwegs, und im vergangenen Jahr schaffte der kanadische Eisbrecher „Amundsen“ die Reise von West nach Ost noch Ende Oktober.

Auch für die Wissenschaft ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Arktis komplett eisfrei sein wird: 2100, 2080 oder sogar bereits 2040 ? Die Propheten unserer Zeit interpretieren Modellrechnungen aus dem Computer, und wer nicht weiß, welche Parameter sie gerade verändert haben, kann die oft widersprüchlichen Vorhersagen nicht vergleichen oder gar bewerten. Allen Modellen gemein ist, dass sie durch einen Abgleich mit Daten aus der Wirklichkeit geeicht werden müssen. Doch wie zuverlässig sind diese Vorgaben?


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mare No. 61

No. 61April / Mai 2007

Von Olaf Kanter und Nick Cobbing

Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wissenschaft.

Nick Cobbing, geboren 1967, begleitete Glaziologen auf einer Greenpeace-Expedition nach Grönland und lernte, wie wenig wir tatsächlich wissen. „Meine Bilder sollen genau dieses Rätselhafte der Natur zeigen. Sie sollen beim Betrachter Ehrfurcht auslösen, Respekt.“

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Vita Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wissenschaft.

Nick Cobbing, geboren 1967, begleitete Glaziologen auf einer Greenpeace-Expedition nach Grönland und lernte, wie wenig wir tatsächlich wissen. „Meine Bilder sollen genau dieses Rätselhafte der Natur zeigen. Sie sollen beim Betrachter Ehrfurcht auslösen, Respekt.“
Person Von Olaf Kanter und Nick Cobbing
Vita Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wissenschaft.

Nick Cobbing, geboren 1967, begleitete Glaziologen auf einer Greenpeace-Expedition nach Grönland und lernte, wie wenig wir tatsächlich wissen. „Meine Bilder sollen genau dieses Rätselhafte der Natur zeigen. Sie sollen beim Betrachter Ehrfurcht auslösen, Respekt.“
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