Die Piers des Irrsinns

Das rasend schnell wachsende westafrikanische Nigeria braucht immer mehr Waren. Der Hafen der Hauptstadt Lagos ist der zentrale Umschlagplatz des Landes. Er spiegelt das Dilemma der Megastadt: das Wirtschaftswachstum und seine Unbeherrschbarkeit

Das Containerschiff kündigt sich mit lautem Sirenengeheul an. Der Kapitän steuert den hellblau leuchtenden Kahn in die enge Einfahrt der Lagune von Lagos, vorbei an den mit Palmwedeln bedeckten Hütten von Tarkwa Bay, entlang der künstlich aufgeschütteten Halbinsel Eko Atlantic, wo in den kommenden zehn Jahren ein Büro- und Finanzzentrum entstehen soll. Passagierboote flüchten, Fischer in Einbaumkanus ziehen schnell ihre Netze ein und betrachten den Giganten, auf dessen Deck sich himmelhoch die Container stapeln.

Die „Maersk Calabar“ bahnt sich langsam den Weg in die Lagune. Hier und da sind noch spärliche Reste der Mangroven zu sehen, die einst die Lagune säumten. Doch das war vor langer Zeit. Heute dümpeln an den Kaimauern von Apapa und Tin Can Island Dutzende Schiffe aus aller Welt, aus Griechenland, Panama und vor allem aus China, das kürzlich zum wichtigsten Handelspartner Nigerias aufgestiegen ist. Gleich dahinter türmen sich riesige Getreidesilos, Treibstofftanks und Lagerhallen sowie Mehl- und Düngerfabriken, zu denen klobige Transportanlagen führen.

Die Hafenterminals liegen mitten in der Metropole, dort wo der Badagry Creek mit seinen vielen Nebenarmen in die Stadtlagune von Lagos mündet. Sie sind umschlungen von Dörfern, Wohn- und Bürovierteln, in denen beinahe 20 Millionen Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Der Hafen hält dem Würgegriff der größten Stadt Afrikas stand, im Gegenteil, er frisst sich in die umliegenden Wohngebiete. Das schnell wachsende Nigeria mit seinen 170 Millionen Einwohnern braucht immer mehr Waren.

Heute ist Lagos bereits der achtgrößte Hafen in Afrika, 2014 fertigte er über 3100 Schiffe mit einer Gesamtgröße von 87 Millionen Bruttoregistertonnen ab. In Hamburg, dem größten Hafen Deutschlands, wurden im gleichen Jahr knapp 260 Mil­lionen Bruttoregistertonnen abgefertigt. 85 Prozent des nigerianischen Warenumschlags, Erdöl und Flüssiggas ausgenommen, werden in Lagos abgewickelt. „Der Warenumschlag in Lagos wächst um durchschnittlich zehn Prozent im Jahr“, sagt Nasir Anas Mohammed, General Manager der Nigerian Ports Authority.

Formell ist der Hafen in zwei selbstständige Einheiten eingeteilt, Apapa und Tin Can Island, die durch einen schmalen Kanal voneinander getrennt sind. Während in Apapa vor allem Massengut und Container abgefertigt werden, haben sich auf Tin Can Island auch Treibstoffhändler und Autospediteure niedergelassen. Der weitverzweigte Hafen ist ein Spiegelbild der Megastadt, die von schlechter Infrastruktur, permanentem Verkehrschaos, wachsenden Müllbergen und sozialen Gegensätzen geplagt ist.

Die Kontraste sind allgegenwärtig. Computergesteuerte Hafenanlagen und armselige Hütten aus Schwemmholz und Pappe liegen nur wenige Meter voneinander entfernt. Wie das ganze Land leidet der Hafen unter staatlicher Bürokratie und Inkompetenz, stöhnt unter wuchernder Korruption und Kriminalität. In Hafen laufen die Interessen vieler Clans zusammen, die Nigerias Wirtschaft seit der Unabhängigkeit vor 56 Jahren beherrschen.

Der Hafen in Apapa ist seit 1921 in Betrieb. Er liegt direkt gegenüber von Lagos Island, wo sich heute viele Banken und Behörden befinden. Die Fähre setzt in zehn Minuten über die Lagune, mit dem Wagen dauert es manchmal zwei Stunden, denn die Zufahrtsstraße ist fast immer verstopft. Endlose Lastwagenkolonnen pusten Abgaswolken in die Luft, alle hupen, aber nichts rührt sich. Motorräder drängen sich zwischen den Autos, um schneller durchzukommen. Hunderte Fußgänger laufen am Straßenrand, es gibt keinen Fußweg, sie springen zwischen Schlammpfützen umher, wenn es in der Nacht geregnet hat. Fliegende Händler belagern die langsam vorankommenden Autos, verkaufen Trinkwasser und Früchte, aber auch gefälschte Uhren, Parfüms und Sonnenbrillen. Bettler halten die Hand auf, manche sind verkrüppelt, es gibt viele minderjährige Mütter mit Babys auf dem Arm.

Vor der Hafeneinfahrt, die an eine Autobahnmautstation erinnert, lungern Gruppen von Männern herum, die nach einem Gelegenheitsjob suchen. Frauen in orange leuchtenden Westen der Stadtreinigung sammeln Müll auf. Mitten in diesem Durcheinander leuchtet eine große Digitaltafel mit den Namen der Schiffe, die ge­rade im Hafen abgefertigt werden – samt Angaben zu Ladung, Reederei und zuständigen Schiffsagenten. Die Tafel wird von der Hafenbehörde gespeist, die den Schiffsverkehr im Hafen regelt und die Lotsen stellt. Vom Kontrollraum im fünften Stock des Hafenturms können die Beamten der Nigerian Ports Authority die gesamte Hafeneinfahrt überblicken.

Bis 2006 wurde der Hafen von Lagos – wie auch alle anderen in Nigeria – vom Staat betrieben. Es war das reinste Chaos. Tausende Familien kampierten auf dem Hafengelände, die Anlagen verfielen, die Lösch- und Ladearbeiten zogen sich über Wochen und Monate hin. Auf dem Meer warteten Hunderte Schiffe auf Einfahrt, manche Reeder heuerten alte Seelen­verkäufer an, um sich einen Platz in der Schlange zu sichern. Immer wieder ging solch ein Kahn bei Sturm unter oder wurde an die Küste gespült.


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Andrzej Rybak
 und Bénédicte Kurzen

Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, freier Journalist in Hamburg, ist seit zehn Jahren immer wieder in Nigeria unterwegs. In Sagbo Koji, einem Vorort von Lagos, musste er dennoch über die archaische Lebensweise staunen. Trotz direkter Nachbarschaft zur modernen Hafen- und Finanzmetropole leben die Menschen in Sagbo Koji wie im 19. Jahrhundert.

Die französische Fotografin Bénédicte Kurzen, geboren 1980, kennt sich bestens aus mit der Situation in Lagos. Sie hat dort ihren Hauptwohnsitz. Seit Jahren sind die Konflikte und sozioökonomischen Veränderungen auf dem afrikanischen Kontinent Mittelpunkt ihrer Arbeit. Kurzen ist Mitglied der Fotoagentur Noor.

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Vita Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, freier Journalist in Hamburg, ist seit zehn Jahren immer wieder in Nigeria unterwegs. In Sagbo Koji, einem Vorort von Lagos, musste er dennoch über die archaische Lebensweise staunen. Trotz direkter Nachbarschaft zur modernen Hafen- und Finanzmetropole leben die Menschen in Sagbo Koji wie im 19. Jahrhundert.

Die französische Fotografin Bénédicte Kurzen, geboren 1980, kennt sich bestens aus mit der Situation in Lagos. Sie hat dort ihren Hauptwohnsitz. Seit Jahren sind die Konflikte und sozioökonomischen Veränderungen auf dem afrikanischen Kontinent Mittelpunkt ihrer Arbeit. Kurzen ist Mitglied der Fotoagentur Noor.
Person Von Andrzej Rybak
 und Bénédicte Kurzen
Vita Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, freier Journalist in Hamburg, ist seit zehn Jahren immer wieder in Nigeria unterwegs. In Sagbo Koji, einem Vorort von Lagos, musste er dennoch über die archaische Lebensweise staunen. Trotz direkter Nachbarschaft zur modernen Hafen- und Finanzmetropole leben die Menschen in Sagbo Koji wie im 19. Jahrhundert.

Die französische Fotografin Bénédicte Kurzen, geboren 1980, kennt sich bestens aus mit der Situation in Lagos. Sie hat dort ihren Hauptwohnsitz. Seit Jahren sind die Konflikte und sozioökonomischen Veränderungen auf dem afrikanischen Kontinent Mittelpunkt ihrer Arbeit. Kurzen ist Mitglied der Fotoagentur Noor.
Person Von Andrzej Rybak
 und Bénédicte Kurzen