Die Parabel von Pitcairn

Führt Abgeschiedenheit auch zu sittlich-moralischer Entfernung? Betrachtungen über ein verlorenes Paradies

Es scheint tatsächlich so etwas wie höhere Gerechtigkeit zu geben, wenn das Paradies zur Hölle wird beziehungsweise wenn bewiesen ist, dass es schon immer die Hölle war, obwohl alle Welt dachte, es sei das Paradies. Aber was ist in diesem Fall gerecht? Was Beweis? Und was Recht?

Ein Eiland im südpazifischen Ozean; es misst drei Meilen in der Länge und eine Meile in der Breite. Einwohner: zurzeit 47 Menschen, die sich von Fisch, Salat, Bananen und Brotfrüchten ernähren. mare-Leserinnen und -Leser kennen die Insel sehr wohl aus der vor über einem Jahr eingestellten Kolumne „25°04' Süd, 130°06' West“; sie heißt Pitcairn und ist mit moderner Ungeduld so gut wie unerreichbar. 6000 Kilometer von Neuseeland entfernt, 2100 von Tahiti, 1000 vom westlich gelegenen Mururoa-Atoll, einige tausend von Panama, erhebliche tausend von Großbritannien. Einen Flugplatz gibt es nicht, einen Hafen ebenso wenig, nur eine Kurzwellenfunkverbindung, seit Kurzem Internet via Satellit. Wer nach Pitcairn gelangen möchte, muss mehrere Wochen auf einem Post-, Kreuzfahrt- oder Versorgungsschiff anreisen und den Inselrat entweder von der Dringlichkeit seines Besuchs überzeugen oder neuerdings zwischen 20 und 4000 Dollar bezahlen, was davon abhängt, ob er Tourist, Student oder TV-Reporter ist.

Das Leben auf der Insel ist in seiner Einfachheit berechenbar und in seiner Unberechenbarkeit schwierig. So gut wie jeder der Bewohner trägt einen der vier Familiennamen Adams, Christian, McCoy oder Quintal, alle Pitcairner sind direkte oder indirekte Nachfahren der neun britischen Meuterer der HMS „Bounty“ und ihrer tahitischen Frauen. Frauen, die die Männer geraubt hatten, bevor sie im Januar 1790 auf dem 4,6 Quadratkilometer kleinen Flecken Land vor der britischen Admiralität Zuflucht suchten und das Paradies fanden. Die Meuterer hatten, um alle Spuren zu verwischen, die „Bounty“ verbrannt und, nach beinahe selbstvernichtenden Streitereien in absoluter Abgeschiedenheit, begonnen, ein eigenständiges Gemeinwesen aufzubauen.

Verwaltet wird Pitcairn seit 1887 nach britischem Recht von einem in Neuseeland residierenden Hochkommissariat des Commonwealth. Die Pitcairner besitzen britische Pässe, sie leben vom Handel mit Honig, getrockneten Bananen, Ananas und von dem Verkauf der berühmten Briefmarken und bekennen sich zur streng christlichen, im Amerika des 19. Jahrhunderts begründeten Glaubensrichtung der Siebenten-Tags-Adventisten. Sie befolgen Alkohol-, Rauch-, Spiel- und Tanzverbot, glauben nicht an die Hölle, sehr wohl aber an die Wiederkunft Christi und heiligen statt des Sonntags den Samstag, den Sabbat, den hebräischen Ruhetag. Zur Versammlung der Gemeinde schlägt die Glocke am Square der weltkleinsten Hauptstadt Adamstown, der einzigen Stadt der Insel im Übrigen – zwei Mal für den Kirchgang, drei Mal, um die Männer zu gemeinschaftlichen Arbeiten zusammenzurufen, vier Mal für die Verteilung von Lebensmitteln, fünf Mal, um die Ankunft eines Schiffes vor der haiverseuchten Küste anzukündigen.

Befürchtungen, dass die gängige und kaum zu umgehende Inzucht auf dem paradiesischen Pitcairn zu geistigen und körperlichen Schäden führen könnte, hatten sich 1938 laut einem Bericht des British Colonial Office als unbegründet erwiesen. Alle Fremden, die die Insel jemals aufgesucht haben (und allzu viele waren es nicht), schildern die Einwohner als kräftig und gesund. So war lange Zeit das größte körperliche Problem der Pitcairner Fettleibigkeit samt Diabetes und das größte seelische die Einsamkeit. Seit Kurzem jedoch sind Probleme solcher Art nachrangig.

Im September 2004 wurde gegen neun Männer des Paradieses (fünf darunter Familienväter) wegen sexueller Straftaten in den vergangenen 40 Jahren Anklage erhoben. Sie hätten systematisch Sex mit minderjährigen Mädchen gehabt, dieselben sexuell genötigt, zum Teil vergewaltigt. Nicht der Höchste Gerichtshof von Pitcairn Island hat diese Anklage erhoben, Pitcairn hat keinen Höchsten Gerichtshof; es besitzt auch keinen anderen Gerichtshof, keinen Richter, keinen Anwalt, nicht einmal ein Gerichtsgebäude; Straftaten waren bislang vom Internen Rat nach eigenen Regeln verhandelt worden. Anklage erhoben hat das Mutterland Großbritannien, dessen letzte Kronkolonie das südpazifische Paradies seit 1838 ist.

Erste Hinweise auf sexuelle Übergriffe waren 1996 aufgetaucht, als sich ein englischer Missionar, zurück in London, über die Verführung seiner Tochter durch einen Pitcairner beschwerte, was bis auf Weiteres ohne Konsequenz blieb. Drei Jahre später reiste die Polizistin Gail Cox aus Kent für sechs Wochen auf die Insel, um in gewisser Weise nach dem Rechten in toto zu sehen und dem Verdacht eines anderen Besuchers nachzugehen, in Pitcairn herrsche eine Art Faustrecht, die Insel sei, wie der Besucher mutmaßte, ein einziges Waffenlager. Was die Polizistin Ihrer Majestät bei den Recherchen peu à peu erfuhr, war von ganz anderer Brisanz: Polygamie, Inzest, Pädophilie.

Vier Jahre lang befragten darauf britische und neuseeländische Ermittler Hunderte Pitcairner und ehemalige Pitcairner im Rahmen ihrer „Operation Einzigartig“, meist Frauen jedes Alters, die entweder noch auf der Insel lebten oder in die USA, nach England, Australien oder Neuseeland gezogen waren. Dann wurde die Anklage gegen die „boys“ formuliert, gegen eine Clique miteinander verwandter mächtiger Männer der Insel um Bürgermeister Steve Christian, Männer, die jahrzehntelang über jede Frau, nach der sie gelüstete, körperlich verfügt haben sollen. Die Anklage wurde möglich, weil britisches Recht Sex mit Mädchen unter 16 Jahren bestraft.

96 Fälle von sexueller Nötigung bis Vergewaltigung galt es zu verhandeln. Polizisten, Experten, Richter und Anwälte aus Neuseeland trafen ein; eigens wurde ein Gerichtsgebäude gebaut und eine Satellitenverbindung installiert. Sieben Frauen sagten per Videokonferenz gegen die „boys“ aus und schilderten, wie die Clique das Leben auf Pitcairn dominierte. Unter den Inselmännern sei die Ansicht gang und gäbe gewesen, dass Mädchen mit zwölf Jahren „zugeritten“ werden müssten. Teenagersex als Gewohnheitsrecht – ist das tatsächlich eine jahrhundertealte Tradition im polynesischen Kulturkreis, wie die Aufzeichnungen des entdeckungsreisenden James Cook um 1768 nahelegen, der, obwohl nur beobachtender Feldforscher, das Geschehen freilich aus der Sicht eines Mannes auf der Grundlage patriarchalischer Moralvorstellungen seiner Zeit schildert? Bekanntlich schrieb Cook, dass Kinder auf Tahiti als selbstverständliche Sexualpartner galten und dass das sexuelle Verhalten der Polynesier von erheblicher Freizügigkeit war.

Vor Prozessbeginn Ende September 2004 hatten sich die noch auf der Insel wohnenden Frauen demonstrativ vor ihre Männer gestellt. Sex im frühen Alter, erklärten sie, sei alte pazifische Tradition und Sex mit zwölfjährigen Mädchen, tat eine kund, Teil des normalen Alltags auf Pitcairn. Auf diese Weise, beschied eine andere rückblickend, hätten die Mädchen gelernt, zum „Sexualobjekt“ zu werden. Inselpolizistin Meralda Warren gab sogar zu Protokoll, es habe nie eine Vergewaltigung gegeben, und die heute 27-jährige Darralyn Griffiths weihte die Polizei in die Geschichte ihrer eigenen Verführung mit den Worten ein: „Ich war 13 und dachte, ich sei scharf. Ich fühlte mich wie eine große Dame.“ Andere Zeugen nannten das Elend beim Namen, eine sprach stellvertretend für alle von „Vergewaltigung und Schlägen auf einer von Gott verlassenen Insel“.

Umso verblüffender war, dass während des Prozesses die Zuschauerbänke leer blieben. Die Pitcairner weigerten sich, dem Verfahren zu folgen. Empört waren sie nicht über die Vergehen, sondern über die Anklage des Paradieses als Sündenpfuhl schlechthin. Sie sahen sich als Opfer der Kolonialmacht, die in jüngerer Vergangenheit durch nichts weiter als gekürzte Zuwendungen aufgefallen sei. Manche hegten sogar den Verdacht, das Mutterland wolle sich mithilfe des Prozesses seiner kleinsten Kolonie entledigen. Am liebsten wollte man die Sache intern klären.

Vergebens. Die Hälfte der arbeitsfähigen Männer Pitcairns ist mittlerweile verurteilt, und die Inselgemeinschaft fürchtet um ihr ökonomisches Überleben – wer im Gefängnis sitzt, kann keine Fische fangen. Bürgermeister Steve Christian, Inselingenieur und Urururururenkel von Fletcher Christian, dem legendären, von Clark Gable, Marlon Brando und Mel Gibson alle 30 Jahre wieder heldenhaft verkörperten Anführer der Meuterer, wurde in fünf Fällen von Vergewaltigung schuldig gesprochen (drei Jahre Gefängnis), sein Sohn Randy in vier Fällen (sechs Jahre Gefängnis), Steves 78-jähriger Schwiegervater Len Brown in zwei (zwei Jahre Arrest). Das sind die Höchststrafen, weitere Prozesse folgen. Nur ein Angeklagter, der Postmeister Dennis Christian, hatte seine Schuld eingestanden.

Die verurteilten „boys“ sind bis auf Weiteres auf freiem Fuß, weil sie vor einem britischen Berufungsgericht die Rechtshoheit Großbritanniens bestritten hatten. Im Mai 2005 hatte der Pitcairn Supreme Court in Neuseeland das Berufungsverfahren abgelehnt, nun liegt der Fall beim Privy Council in London und ist damit an die höchste britische Rechtsinstanz verwiesen. Der Prozess begann im Juli 2006 und fand nach nur einem Tag ein abruptes Ende. Die Höchsten Richter der Krone hatten genug gehört und bewerteten das Schlüsselargument der Verteidigung, die Insel habe sich von jeher selbst regiert, als „unrealistisch“. Was das mögliche Urteil betrifft, wollte sich der Crown Prosecutor zu keiner Tendenz bewegen lassen, mit einer definitiven Entscheidung rechnet er dieser Tage im Oktober. Alle Kosten, die der Verteidigung wie der Anklage, werden von der britischen Regierung getragen. Sollten die überführten Vergewaltiger nach ihrer letztinstanzlichen Verurteilung durch das Privy Council schließlich zu Insassen des von ihnen selbst gebauten Gefängnisses werden, so erhalten sie, wenn ihre Arbeitskraft für die Existenzfähigkeit der Gemeinschaft vonnöten ist, Freigang. Das steht schon jetzt fest.


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mare No. 58

No. 58Oktober / November 2006

Von Christian Schüle

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Im März erschien sein Buch Deutschlandvermessung. Während der Arbeit an diesem Stück beschäftigte ihn der Gedanke, mit einem Postschiff einmal nach Polynesien zu reisen, um Feldforschung zu betreiben.

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Vita Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Im März erschien sein Buch Deutschlandvermessung. Während der Arbeit an diesem Stück beschäftigte ihn der Gedanke, mit einem Postschiff einmal nach Polynesien zu reisen, um Feldforschung zu betreiben.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Im März erschien sein Buch Deutschlandvermessung. Während der Arbeit an diesem Stück beschäftigte ihn der Gedanke, mit einem Postschiff einmal nach Polynesien zu reisen, um Feldforschung zu betreiben.
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