Die Nordostseewelle

Das „Friesenlied“ ist der bekannteste Schlager an der deutschen Nord- und Ostseeküste. Seine Entstehung spielt aber tief im Binnenland

Der Lebenslauf des Liedes, von dem zu erzählen ist, beginnt mit einer Frau und ihrem Eigensinn. Aus einem weltfernen Dorf an der vorpommerschen Küste ist Martha Grählert 1898 mit 22 Jahren ins Gewimmel der Großstadt geflohen. Raus aus Zingst in die Welt, um zu schreiben und sich zu behaupten. 1905 wird sie als „langjährige Mitarbeiterin“ beim „Deutschen Familienblatt“ in Berlin geführt. Dem fünfjährigen elterlichen Hausverbot trotzt sie, aber das Sehnen nach den heimischen Gestaden wird sie in Berlin nicht verlassen. 1907 veröffentlicht Martha Grählert 25 Gedichte im Selbstverlag, ein schmales Bändchen mit dem Titel „Schelmenstücke“. Das erste Gedicht erzählt auf Plattdeutsch von ihrer großen Sehnsucht, „Mine Heimat“. 1908 drucken die „Meggendorfer Blätter“ das Gedicht ganzseitig ab, ein farbiges Strandbild verstärkt die Stimmung.

Die nächste Szene der Liedbiografie spielt in Zürich, an einem Sonntagvormittag. Ein Glaser aus Flensburg klopft an die Tür von Simon Otto Louis Krannig, einem Thüringer Handwerker, der sich 1891 an der Limmat niedergelassen hat. Der Flensburger hält die „Meggendorfer Blätter“ mit Martha Grählerts Gedicht in der Hand und bittet Krannig, der die Ostsee auf der Walz lieben gelernt hat, um eine Vertonung. Beide verschwinden ins Musikzimmer, aus den Klaviertönen formt sich eine Melodie. Noch am Vormittag ist aus dem Gedicht ein Lied geworden, kurze Zeit später wird es in Zürich erstmals öffentlich aufgeführt – am Grab des Flensburgers. Der Komponist hatte schnell „einige Sängerfreunde zusammengetrommelt aus … den deutschen Vereinen“.

Krannigs Hausverlag in Zürich rechnet nicht mit einem Geschäftserfolg in der Schweiz und sieht von einer Veröffentlichung ab. 1909 bringt Schondorf’s Verlag in Braunschweig die Partitur des Liedes für „Tenöre und Bässe/Innig und frei bewegt“ in Umlauf. Es ist die Zeit der Heimatlieder und der Gesangsvereine, von Brauchtum und Identitätsfindung im noch jungen Deutschen Reich. 1911 nimmt das weitverbreitete „Plattdütsch Leederbok“ Martha Grählerts Gedicht in seine Liedsammlung auf, jedoch unter dem Titel „Sehnsucht nah de Heimat“ und zur Melodie des Liedes „Freiheit, die ich meine“.

„Um 1911 bis 1913“ kam das Ostseewellenlied „an die Nordsee und wurde dort schnell beliebt als Lied der Friesen“. So notiert es der letzte Leiter des Schleswig-Holsteinischen Volksliedarchivs, Max Kuckei (1890–1948). Der Verleger Friedrich Fischer-Friesenhausen „hörte 1922 an der Nordsee das zugewanderte Lied und brachte es auf Postkarten in Vertrieb. … Im gleichen Jahr erschien auch eine erste Klavierausgabe“ des „Friesenlieds“ sowie eine „Notenkarte“ von Fischer-Friesenhausen. Martha Grählerts Worte wurden den regionalen Befindlichkeiten kurzerhand angepasst. „Der Text des Friesenlieds ist … von Fischer-Friesenhausen bearbeitet und heißt bei uns: ,Wo de Nordseewellen trecken an den Strand, wo de geelen Blomen blööt in’t gröne Land …‘“

Im Juli 1933 reichen schon die ersten Töne aus, und jeder weiß, was da erklingt. Die Norddeutsche Rundfunk AG setzt Krannigs Melodie als Pausenzeichen ein. Zwei Jahre später tut es ihm der Ostmarken Rundfunk in Königsberg gleich. Ein elektrisches Spielwerk spielt die Liedvariation „Wo des Haffes Wellen trecken an den Strand“. Es kommt zum Prozess zwischen den Sendern, Königsberg muss sich ein anderes Rundfunksignal suchen.

Mitsingen kann der Radiohörer daheim am 17. Oktober 1933. Der Norddeutsche Rundfunk hat ihn mit dem Wirtshaus „Waffenschmiede“ in Kiel-Holtenau verbunden. In der Übertragung tritt der Lotsengesangsverein „Knurrhahn“ auf. 49 Sekunden lang singen Chor und Vorsänger Hugo Lucker die treckenden Nordseewellen in niederdeutsche Wohnzimmer. Am 1. Januar 1934 wendet sich Gustav Grupe, Intendant des Norddeutschen Rundfunks, über den Deutschen Kurzwellensender auch an die Auslandsdeutschen. Nach seiner Neujahrsansprache ist aus dem Lautsprecher Chorgesang zu hören: „Wo die Nordseewellen …“, schließlich das Glockengeläut vom Hamburger Michel und Dampfertuten. Die große Reise von Krannigs Komposition nimmt ihren Lauf.


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mare No. 98

No. 98Juni / Juli 2013

Von Claus Stephan Rehfeld

Claus Stephan Rehfeld geboren 1953, gelernter Hochseefischer, studierte nach dem endgültigen Landgang Journalismus und arbeitet beim Deutschlandradio Kultur als Redakteur und Autor.

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Vita Claus Stephan Rehfeld geboren 1953, gelernter Hochseefischer, studierte nach dem endgültigen Landgang Journalismus und arbeitet beim Deutschlandradio Kultur als Redakteur und Autor.
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