Die Musik des Meeres

Nicht nur für Synästheten gilt: Wer hören will, der kann in einem Meer ganze Symphonien hören, gar den Klang der Welt

Die Wellen haben den Aufruhr der Elemente in sich aufgenommen. Myriaden Moleküle allein in der Schaumkrone der brechenden Brandung ertönen rasselnd, grollend und zischend bei der Verwandlung der Wasserberge zu Gischtschwaden. Die Zeit befindet sich im Zustand der Auflösung, die Geräusche werden Klänge, die Klänge werden Musik, und der Moment dehnt sich in andere Dimensionen.

Ich sitze auf einem abgeschliffenen Felsen an dem Lieblingsstrand meiner Mittelmeerinsel, und ich sehe zu, wie ein Wintersturm die Wellen vor sich hertreibt und in die Bucht presst, wo die Untiefen die Dünung zu monströsen Wasserbergen verdichten. Es ist mein Logenplatz. Auf dem Spielplan steht „The Greatest Show On Earth“. Der Titel trifft zwar auch das optische Geschehen; ich aber bin hier wegen der akustischen Sensationen.

Hinter mir am Strand erstreckt sich ein Fischerdorf. Schon dort, im Foyer meines Konzertortes, beginnt das Spektakel. Die verwinkelten Gassen filtern die tiefen Frequenzen aus. Die stark gedämpften Klänge des Meeres geben sich noch harmlos, sie klingen wie eine Ouvertüre. Auf dem Weg zum Strand verändert sich das Spektrum der Töne mit jedem Wechsel in eine andere Straße. Erst verstärken sich die mittleren Tonlagen mit ihrem Rauschen und Grummeln, die sich mit dem Pfeifen und Heulen der unvermittelt einbrechenden Böen mischen. Dann die letzte Biegung in die Straße, an deren Ende schließlich das Meer zu sehen ist.

Ein Riss in den schwarzen Wolken öffnet sich der Sonne für einen kurzen Moment. Gleißende Strahlen illuminieren die dunklen Gebilde am Himmel und lassen sich von Teilen der Meeresfläche vor dem Horizont reflektieren. Mit jedem Meter der Annäherung ans Meer verdichtet sich das Grollen zu einem Urschrei aus Pauken, Trompeten, exotischem Schlagwerk und tiefen Streichern. Das Blickfeld öffnet sich, und die Musik der aufgewühlten Wassermassen ist Quadrophonie der Extraklasse im Breitwandkino. Mein Platz ist ein Privileg, er liegt im Fokus der Klangwellen, er wird in einer Weise aus allen Richtungen beschallt, die mich einer realistischen Orientierung beraubt. Mal drängt sich eine Frequenz von rechts in den Vordergrund, mal eine von links, und dazu verwirren Reflexionen eines Rauschens und Jaulens, die von hinten zu kommen scheinen.

Die Zeit am Meer ist vergessen, ich versinke in den Wogen der Klangwellen, versinke in wach geträumten Bildern, sehe zu Crescendi, die an mein Trommelfell branden, die geblähten Segel der „Santa María“, sehe zerschellte Boote am Strand einer Robinsoninsel, sehe Moby-Dick durch die Wellenkämme gleiten und seinen Blas versprühen, sehe William Turner eine schwarze Welle malen, die ein Beiboot verschlingt, sehe Andreas Achenbach einen Nordseesturm auf der Leinwand erschaffen und wie Caspar David Friedrich mit dem Pinsel eine aufgebrachte See zu beruhigen versucht.

Der Strand geht westlich von mir in eine flache Felsküste über. Hier variiert der Klang des Wassers schon nach wenigen Metern. Aus Felsspalten sprühen im Rhythmus der Wellen Fontänen; sie erzeugen Geräusche, als saugten riesige Monsterkraken an den Fluten, um kurz darauf alles wieder rülpsend auszuspeien.In den Grotten erzeugt das Ein- und Ausschwappen ein eigenartig außerirdisches Gluckern und Röcheln. In engen Einbuchtungen werden rund geschliffene Geröllsteine unterschiedlicher Größe aufgewirbelt; wenn sie rasselnd wieder zu Boden regnen, erzeugen sie einen Tonschauer, der wie eine Serie von Echos klingt.

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mare No. 144

mare No. 144Februar / März 2021

Von Ulrich Magnus Hammer

Ulrich Magnus Hammer, geboren 1945, ist Künstler, Schriftsteller, Musiker und Segler. Er war Mitglied der Kultband Ton Steine Scherben und veröffentlichte Romane, Essays und Feuilletons. Seit 2010 widmet er sich der Videokunst. In sein Tagebuch schrieb er 1960: „Die Schule schwänzend, verbringe ich die Vormittage am Strand, starre sehnsüchtig in die Ferne und lasse mich vom Dröhnen der Brandungsmusik betäuben.“

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Vita Ulrich Magnus Hammer, geboren 1945, ist Künstler, Schriftsteller, Musiker und Segler. Er war Mitglied der Kultband Ton Steine Scherben und veröffentlichte Romane, Essays und Feuilletons. Seit 2010 widmet er sich der Videokunst. In sein Tagebuch schrieb er 1960: „Die Schule schwänzend, verbringe ich die Vormittage am Strand, starre sehnsüchtig in die Ferne und lasse mich vom Dröhnen der Brandungsmusik betäuben.“
Person Von Ulrich Magnus Hammer
Vita Ulrich Magnus Hammer, geboren 1945, ist Künstler, Schriftsteller, Musiker und Segler. Er war Mitglied der Kultband Ton Steine Scherben und veröffentlichte Romane, Essays und Feuilletons. Seit 2010 widmet er sich der Videokunst. In sein Tagebuch schrieb er 1960: „Die Schule schwänzend, verbringe ich die Vormittage am Strand, starre sehnsüchtig in die Ferne und lasse mich vom Dröhnen der Brandungsmusik betäuben.“
Person Von Ulrich Magnus Hammer