Die Muscheltherapeutin

Eine Schweizer Austernzüchterin versetzt mit ihrem Savoir-vivre die alteingesessene Konkurrenz auf der französischen Atlantikinsel Noirmoutier in rege Unruhe

Ob Austern Musik mögen? Véronique Belmont behauptet es. Täglich spielt sie ihnen auf ihrem elektrischen Piano vor, und ihre geschwollenen und gefurchten Hände gleiten dabei erstaunlich virtuos über die Tasten. Am liebsten spielt sie Bach, immer wieder Bach. Hätte sie der Klavierlehrer, den sie als Kind hatte, gefördert, anstatt sie zu schikanieren, wer weiß, vielleicht wäre aus ihr eine Musikerin geworden.

Heute züchtet und verkauft sie Austern. Das machen viele andere auf der Insel Noirmoutier auch. Diese liegt an der französischen Atlantikküste, ein wenig südlich von Saint-Nazaire und der Loiremündung, und ist berühmt für die glibberige Delikatesse. Bach bekommen aber nur die Austern von Véronique zu hören, bevor die Züchterin ihr Messer zwischen Boden und Deckel der Schale schiebt und mit einem gezielten Schnitt den kräftigen Muskel durchtrennt, der beides zusammenhält.

Ihr weiß gestrichenes Häuschen mit den marineblauen Tür- und Fensterrahmen, der Teich und das kleine, betonierte Becken, wo sie ihren Austernvorrat für eine Woche lagert, sind ideal gelegen: direkt an der Hauptstraße, auf der die Touristen das schmale Eiland auf und ab fahren. Von den Touristen lebt Noirmoutier schon seit mehr als 150 Jahren. Seit allerdings 1971 die Brücke zwischen dem Festland und der Insel eröffnet worden ist und man nicht mehr allein per Boot oder über einen jahrhundertealten schmalen, nur bei Ebbe befahrbaren Damm hinübergelangen kann, kommen sie in Scharen. Sie kaufen fleur de sel, die „Blume des Salzes“, die auf schlammigen, über die ganze Insel verstreuten Meersalzsalinen zu zarten Kristallen heranwächst und die Luft noch stärker als ohnehin am Meer mit Jod anreichert. Und sie kaufen die Austern, die die meisten Züchter auf Märkten oder in kleinen Straßenständen und Häuschen auf eigene Rechnung feilbieten.

Austernzucht an diesem Abschnitt der französischen Atlantikküste ist Familiensache. Klein- und Kleinstbetriebe halten die 380 Konzessionen, die das Büro für Meeresangelegenheiten auf Noirmoutier jährlich vergibt. Viele sind nebenher noch Bauern und pflanzen eine Kartoffelsorte an, die den Namen der Insel trägt.

Véronique Belmont lebt erst seit 1972 auf Noirmoutier. Dass sie keine Einheimische ist, macht sie unmissverständlich klar. Neben der Einfahrt zu ihrem Grundstück weht eine Schweizerfahne im steifen Westwind. Über dem flachen Land, in der klaren Luft, ist das weiße Kreuz auf rotem Grund schon von Weitem zu sehen. Véronique Belmont ist Doppelstaatsbürgerin, Französin und Schweizerin zugleich. Als Weltbürgerin bezeichnet sie sich selbst gern. Eine von hier zu sein, diesen Wunsch hat sie aufgegeben. Dazu müsse man auf der Insel geboren sein, sagt sie.

Der Kunde, der ein Präludium aus dem „Wohltemperierten Klavier“ unterbricht, will das Dutzend Austern mittlerer Größe gleich jetzt und am Tisch vor dem Häuschen schlürfen. „Mit ein wenig Brot und Butter“, ordert er. „Und einem Gläschen?“, fragt Véronique, deren Hände nun schon bei der Arbeit sind und eine Muschel um die andere öffnen. Handschuhe trägt sie dazu keine. „Ja, mit einem Gläschen“, antwortet er kurz angebunden. Er hat einen kleinen Buckel, und der Kopf steckt zwischen hochgezogenen Schultern. Sein Blick wandert misstrauisch von den hohen, schwarzen Fischerstiefeln, die mit umgeknickten Schäften neben dem Cheminée mit dem gusseisernen Rahmen stehen, über das Fischernetz und das Bootsmodell, die von der Decke hängen. In den Regalen an den Wänden stehen Bücher, in schrägen Reihen, oder liegen, zu Haufen gestapelt, auf dem Boden. In einem Korb verbogenes Besteck, überall an den Wänden kleine, gerahmte Bilder, überall Fotografien, Postkarten, Zeitungsschnipsel. Ein Flohmarkt wirkt aufgeräumter.

Als wagte der Kunde nicht, sich weiter umzusehen, fixieren seine grauen Augen rasch wieder die Platte mit den nun geöffneten Austern. Sauber aufgereiht, liegen sie im Kreis auf dem Blech. Das milchig weiße Fleisch, von einem dunklen Saum umfasst, schwimmt im Perlmutterschoß. Die mädchenhaft schlanke Véronique trägt ihm das Mahl voraus ins Freie.


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mare No. 85

No. 85April / Mai 2011

Von Ronald Schenkel und Heike Ollertz

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, freie Fotografin in Hamburg, und Ronald Schenkel, 1964 geboren, Redaktionsleiter von NZZ Campus in Zürich, haben sich auf Noirmoutier nicht nur über den merkwürdigen Streit zwischen Véronique Belmont und ihrer alteingesessenen Konkurrenz gewundert, sondern auch darüber, wie fragil die Geschäftsgrundlage der Austernzüchter eigentlich ist: Jeder Sturm, jeder Umweltfrevel kann sie in den Ruin treiben.

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Vita Heike Ollertz, Jahrgang 1967, freie Fotografin in Hamburg, und Ronald Schenkel, 1964 geboren, Redaktionsleiter von NZZ Campus in Zürich, haben sich auf Noirmoutier nicht nur über den merkwürdigen Streit zwischen Véronique Belmont und ihrer alteingesessenen Konkurrenz gewundert, sondern auch darüber, wie fragil die Geschäftsgrundlage der Austernzüchter eigentlich ist: Jeder Sturm, jeder Umweltfrevel kann sie in den Ruin treiben.
Person Von Ronald Schenkel und Heike Ollertz
Vita Heike Ollertz, Jahrgang 1967, freie Fotografin in Hamburg, und Ronald Schenkel, 1964 geboren, Redaktionsleiter von NZZ Campus in Zürich, haben sich auf Noirmoutier nicht nur über den merkwürdigen Streit zwischen Véronique Belmont und ihrer alteingesessenen Konkurrenz gewundert, sondern auch darüber, wie fragil die Geschäftsgrundlage der Austernzüchter eigentlich ist: Jeder Sturm, jeder Umweltfrevel kann sie in den Ruin treiben.
Person Von Ronald Schenkel und Heike Ollertz