Die Muschelschubser

Nahrungssuche als Volkssport: Wenn die Ebbe besonders niedrig ausfällt, zieht toute Hauteville zu Fuß ins Watt

Hauteville-sur-Mer, Basse Normandie. Es gibt hier diese Tage, an denen der Krankenstand dramatisch anschwillt. Im Frühjahr passiert es bei Neumond, im Herbst bei Vollmond. Der Elektriker lässt sich von seiner Frau entschuldigen. Der Klempner, die ehrliche Haut, hat von vornherein gesagt, dass er an den Tagen der grande marée, der großen Flut, nicht arbeitet. Auf dem Markt sind die Verkäufer, die sonst gern lange über die Vorzüge ihrer Waren quasseln, kurz angebunden: „Wollen Sie jetzt die Batikhose oder nicht? Beeilen Sie sich! Ich will zur pêche-à-pied.“ Dann ist grande marée – wenn ein Mal im halben Jahr die große Flut kommt, mit einem Tidenhub von 13 Metern, genauer genommen, wenn sie geht und das Meer im Sandbett ein gewaltiges plateau de fruits de mer angerichtet hat, mit Muscheln und Austern und Krabben, die man wie im Schlaraffenland nur hervorkratzen muss.

Dem Fischen zu Fuß wird an der ganzen französischen Atlantikküste gefrönt, doch zwischen Cherbourg und dem Mont Saint-Michel ist das Scharren in Sand und Priel Volkssport. Jahrhundertelang war es das dringend benötigte Zubrot der Kleinbauern. Weil das Departement Manche mehr Küstenkilometer hat als jedes andere. Weil das Meer in der Manche, dem Ärmel im zugehörigen Ärmelkanal, zwei Mal täglich auf scheinbar Nimmerwiedersehen verschwindet. Bei Ebbe sieht man, wo Horizont und das nur noch geahnte Meer verschwimmen, schwarze Strichcodes im silberblau schimmernden Watt. Das sind die Muschel- und Austernbänke. Dorthin strömt das Volk.

Nun ist es so, dass Normannen von einem Fünf-Gänge-Menu aufstehen und nichts anderes im Sinn haben, als die nächste Mahlzeit zu sichern. Indem sie mit Stöcken in den Hecken stochern (Schnecken), auf Leitern durch die Knicks turnen (Brombeeren), sich mit der Sichel in den Salzwiesen zu schaffen machen (Kaninchenfutter oder Salicorne). Doch bei einer pêche-à-pied sieht die Essensbeschaffung aus, als stünde ein neuer Bauernkrieg bevor. Aus allen Gassen, von allen Parkplätzen strömen sie herbei, Männer und Frauen in abgerissener Kleidung, Gummistiefeln und alten Schuhen, mit hochgekrempelten Hosen und einem bedrohlichen Waffenarsenal: Harken und Hacken, Mistgabeln, Speere, Dreizacks und Zweizacks.

Die Optimisten ziehen Handwagen hinter sich her, in Hochrechnung ihres geplanten Fanges. Die Pessimisten begnügen sich mit Plastiktüten oder Eimern. Die alten Hasen erkennt man am Weidenkorb an der Hüfte. Das sind Einheimische, aber auch Küstenbewohner von Caen oder Rouen, die sich freinehmen für ein leidenschaftliches Hobby. Diese Routiniers überlassen die leichte Beute den Amateuren: Austern, die im Anrollen der großen Flut von den Gerüsten der Züchter abgefallen sind, damit sollen sich die Pariser amüsieren. (Bisweilen hilft der Fischer zu Fuß da mit dem Taschenmesser nach – weswegen sich das Gerücht hält, neuerdings mischten sich Polizisten in Badehosen unter die Jäger und Sammler.) Nein, Könner und Kenner haben ehrgeizigere Pläne, was man schon am schweren Gerät sieht: dem 1,30 Meter breiten Rechen mit scharfen Zähnen, den man im Rückwärtsgang durchs Watt schleift, in der Hoffnung, damit schlummernde Seezungen aufzuscheuchen. Die sich der Fußfischer dann nur noch mit der Hand zu greifen braucht. Theoretisch jedenfalls.

Aber es gibt ja auch noch andere Delikatessen: Muscheln, wie praires, palourdes und clams. Der Könner fischt zunächst mit den Augen. Palourdes fängt man in den Pfützen im Sand, wo sich ein grünes Fädchen bewegt, Algen, die aus der Muschelklappe wedeln. Die clams werden geortet nach ihrem charakterischen Tropfenmuster auf dem feuchten Sand – und, zack, ist sie ausgegraben und im Korb.

Wenn die Armada der Freibeuter drei Stunden später, die Arme lahm vom Harken und vom Schleppen der Beute, wieder an Land geht und der Novize noch einen Blick zurückwirft auf das meilenweit umgegrabene Watt, dann drängt sich ihm vielleicht der Gedanke auf: Mein Gott, wie viele Kilometer Autobahn hätten die heute Nachmittag bauen können …

Meeresfrüchte „pêche-à-pied“

Zubereitung

Palourdes und praires werden roh und gekühlt geschlürft wie Austern. Oder mit dem Messer geöffnet, mit Kräuterbutter und Semmelbröseln für etwa drei Minuten gratiniert. Coques und clams müssen gegart werden. Aber zuvor entsandet, indem sie für einige Stunden in Salzwasser gelegt werden, wobei sie sich öffnen und den Sand ausscheiden. Coques werden mit einem Glas Weißwein so lange gedämpft, bis sie weit aufklaffen. Ihr Fleisch wird als Meeresfrüchtesalat, Spaghettisauce oder Quiche-Garnitur serviert. Clams öffnet man roh, dann kratzt man das Fleisch heraus und entfernt den schwarzen Verdauungstrakt. Danach werden sie mit Olivenöl, Schalotten, Knoblauch und Petersilie höchstens zwei Minuten auf jeder Seite gebraten, anschließend über frisch gekochte Nudeln gegossen oder auf Baguette angerichtet.

mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Von Paula Almqvist und Christer Almqvist

Paula Almqvist unterhält eine literarische Gemischtwarenhandlung und lebt in Hamburg und der Normandie - wohin es auch viele Maler zieht. Selbst sammelt sie naive Schiffsbilder und Meeresansichten, auf Kistendeckel gemalt oder in verräucherten Kneipen an die Wand geschraubt.

Foto: Christer Almqvist

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Vita Paula Almqvist unterhält eine literarische Gemischtwarenhandlung und lebt in Hamburg und der Normandie - wohin es auch viele Maler zieht. Selbst sammelt sie naive Schiffsbilder und Meeresansichten, auf Kistendeckel gemalt oder in verräucherten Kneipen an die Wand geschraubt.

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Vita Paula Almqvist unterhält eine literarische Gemischtwarenhandlung und lebt in Hamburg und der Normandie - wohin es auch viele Maler zieht. Selbst sammelt sie naive Schiffsbilder und Meeresansichten, auf Kistendeckel gemalt oder in verräucherten Kneipen an die Wand geschraubt.

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