Die Mitte des Mittelmeeres

In Kalabrien lernt der Reisende den Kreislauf des Lebens

Fünfzehn Kilometer vor der Küste Kalabriens liegt der exakte geografische Mittelpunkt jenes Meeres, das Afrika und Europa, Orient und Okzident voneinander scheidet und miteinander verbindet. Das geschundene Kalabrien, eine der ältesten Kulturlandschaften Europas, ist das Vorzimmer vom Zentrum des Mittelmeeres.

Von den Griechen kolonialisiert, Heimat des Pythagoras, von den Römern erobert, den Raubzügen der Sarazenen preisgegeben, den Normannen unterworfen, von Erdbeben heimgesucht - 1908 mit katastrophalen Folgen -, war die arme Provinz in all den Jahrhunderten kaum je vom Glück verwöhnt. Kommt man aus dem fetten Norden Italiens, ist der Eindruck dieses noch heute geprellten Landes bedrückend.

Karg ist die Südküste des italienischen Stiefels, herb, steinig und arm. Sie könnte auf eine eigenartige Weise schön sein, eine klassische Mittelmeerküste ohne falsche Süßlichkeit, eine Landschaft, die eher dazu verlockt, Oliven, Brot und Wein zu sich zu nehmen als ein grellbuntes Wassereis.

Doch gelangt man in eine verlorene Gegend, die den Eindruck eines Menschen macht, der innerlich mit dem Leben abgeschlossen hat und nur noch auf das Ende wartet: ein Leben, das kein Versprechen mehr kennt, sondern sich selbst nur noch mitmacht, irgendwie. Die Küste Kalabriens ist eine weitere Küste, eine Küste zu viel womöglich, ein „être de trop".

Paul Theroux schreibt in seinem Mittelmeerbuch, wie es aussieht in der unmittelbaren Nähe der Mitte des Mittelmeeres: „Südlich von Reggio eine Folge von verstreuten Ansiedlungen am Meer, dazu, eingezwängt zwischen Fabriken und Müllhalden, ein paar ungepflegte Weinberge.

Dieser Blick aufs Mittelmeer war mir neu; kilometerweit nichts als leere, steinige Strände. Auf der Landseite sah man kleine Ansammlungen von Häusern, manche sahen aus wie historische Gebäude, die tiefen Risse in den Wänden anderer rührten möglicherweise noch von dem Erdbeben des Jahres 1908 her. Neuere Häuser gab es auch, aber sie sahen genauso baufällig aus wie die alten. Der Boden machte einen unfruchtbaren Eindruck, meistens weißer, kalkiger Ton."

Neuere Häuser gibt es auch, in der Tat: Hunderte, vielleicht Tausende von unfertigen Gebäuden, Häuserskeletten mit schwarzen Totenaugen und in den Himmel ragenden Armierungen beherrschen das alte Land. Zunächst hofft man, hinter der nächsten Wendung der Küste werde sich das Bild ändern, man sei zufällig in ein Neubaugebiet geraten. Doch es geht immer so weiter, Reggio selbst ist voll davon. Ein Straßengewirr, mit flackernden Neonreklamen und dennoch düster, umgibt den Corso Garibaldi, die Flaniermeile, auf der sich abends die gesamte Bevölkerung zu versammeln scheint. Junge Carabinieri der Polizeiakademie beherrschen das Bild; eine Kapelle trötet bekannte Opernweisen, wie in einem der apokalyptischen Filme Fellinis. Als wartete die Stadt darauf, dass der Ätna auf der anderen Seite der Meeresenge sie endlich verschlingt.

50 Kilometer weiter dann der Blick auf die Mitte selbst. Kein Fischerdorf hier, um per Boot hinauszugelangen. Es ist, als habe eine Katastrophe, ein Bürgerkrieg wie in Beirut stattgefunden, als seien die Bewohner verschwunden. Doch die unfertigen Häuser sind, zumindest teilweise, belebt - ein bizarrer Anblick: das Erdgeschoss bewohnt, die Stockwerke darüber Rohbau, die Gerüste und Baumaschinen verrostet, seit Jahren schon.

Die Kalabresen geben die unterschiedlichsten Auskünfte, und die Vermutung liegt nahe, dass der wahre Grund für diese eigenartigen Zustände betreten verschwiegen wird: Erst von einem bestimmten Fertigungsgrad an zahle man Steuern, die Bauten seien illegal, es gebe Subventionen für einen Neubau, oder man baue erst für die Eltern, später baue man weiter, wenn die Kinder eine Familie gegründet hätten, die dann einziehe ins große Haus. Was stimmt nun? An allem wird etwas Wahres sein.

Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass diese Rohbauten Zeugnisse eines sozialen Umbruchs einerseits, Zeichen des einstweilen stecken gebliebenen Neubeginns andererseits sind: Auch in Süditalien löst sich der Verband der Großfamilie auf. Die Jungen gehen in den Norden oder ins Ausland und kehren nicht mehr zurück. Die Betonskelette dokumentieren die Auflösung alter Verhältnisse, den brutalen Eingriff der dynamisierten Gesellschaft.

Doch zeugen die Ruinen offenkundig auch vom vorerst gescheiterten Versuch, die Küste für den Tourismus zu erschließen. Bedrückend nicht nur die halbfertig gestellten Hotels, sondern vor allem die Uferpromenaden, die funktionslos irgendwo beginnen, um abrupt wieder abzureißen.


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mare No. 25

No. 25April / Mai 2001

Von Eckart Goebel und Zora del Buono

Eckart Goebel, Jahrgang 1966, lebt als Literaturwissenschaftler in Berlin. In mare No. 24 besprach er Victor Auburtins Urlaubsbuch Sand und Sachsen.

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. Sie lebt in Berlin. In Heft No. 22 portraitierte sie die Crew des Containerschiffes „MS Damaskus".

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Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, lebt als Literaturwissenschaftler in Berlin. In mare No. 24 besprach er Victor Auburtins Urlaubsbuch Sand und Sachsen.

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. Sie lebt in Berlin. In Heft No. 22 portraitierte sie die Crew des Containerschiffes „MS Damaskus".
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Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, lebt als Literaturwissenschaftler in Berlin. In mare No. 24 besprach er Victor Auburtins Urlaubsbuch Sand und Sachsen.

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. Sie lebt in Berlin. In Heft No. 22 portraitierte sie die Crew des Containerschiffes „MS Damaskus".
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