Die missbrauchte Insel

Gehören sie zu Japan? Oder sind sie wirklich ein Flugzeugträger der USA? Auf Okinawa ist sich keiner seiner Zugehörigkeit sicher

Oleander blüht hinter Stacheldraht, Zuckerrohr schießt in die Höhe, birgt Schlangen und Satellitenschüsseln. Palmen und Bananen wachsen hier, die Männer tragen keinen Anzug, sondern Blumenhemd, auch im Büro. Okinawa ist das andere Japan. Ein Archipel mit vielen Namen: Ryukyu hieß das ehemalige Königreich einst, für die Amerikaner waren die Inseln der „Schlussstein im Pazifik", Herzstück ihres antikommunistischen Verteidigungsbogens.

Okinawas Unglück ist, dass es so günstig liegt. Günstig für die fremden Militärs, die vorrechnen, wie schnell man von der Insel alles erreichen kann: Korea, Taiwan, China, die Philippinen und die US-Stützpunkte auf Hawaii. Okinawas Glück ist die Schönheit seines Meeres. Seine Lage machte es zum Vorposten Japans, zum Schlachtfeld des Pazifikkriegs, zum unversenkbaren Flugzeugträger Amerikas, zur Hölle. Seine Strände machten es zur Projektionsfläche für Südseeträume, zum Paradies.

Kurz bevor die amerikanischen Truppen im Frühjahr 1945 die Inseln erreichten, mehr als drei Jahre nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, wurden 222 Schülerinnen und 18 Lehrer zweier Mädchenschulen auf Okinawa zum Lazarettdienst verpflichtet. Himeyuri, Prinzessinlilien, nannten sich die jungen Frauen. Eine der Prinzessinlilien war Yoshiko Shimabukuro.

Lehrerin wollte Yoshiko werden, und es erfüllte sie mit Stolz, dass sie es auf jene Schule geschafft hatte, auf der die Töchter Okinawas einst Basketball gespielt und Englisch gelernt hatten, bis man ihnen die Sprache des Feindes verbot und sie nichts anderes lernten als Vaterlandsliebe. Morgens mussten sich die Mädchen Richtung Nordosten verneigen, in Richtung des japanischen Kaiserpalasts. Das erste Wasser, der erste Reis am Tag gebührte zudem der Sonnengöttin Amaterasu, von der, so wollte man es sie glauben machen, das Kaiserhaus abstammte. Sie lernten zu marschieren, und sie übten in Rock und Bluse den Kampf mit der Lanze. Am 23. März 1945 schließlich kam der Einsatzbefehl. Yoshiko wusste nicht, wie es um die japanische Armee stand. Eine Woche noch, glaubte sie, dann haben wir gewonnen. 17 Jahre war sie damals alt, ein Mädchen mit rundem Gesicht, Seitenscheitel und zwei Zöpfen.

Als sie das erste Mal Blut sah, fragte sie: „Was soll ich jetzt machen?" Da herrschten die japanischen Soldaten sie an, ihre Arbeit solle sie tun, und zwar ordentlich. Also hielt sie den Chirurgen die Lampe; sie fütterte die, die keine Arme mehr hatten. Sie trug jene, die keine Beine mehr hatten. Sie pflückte die Maden von den Rümpfen der Verstümmelten, damit sie nicht in Nase und Ohren eindrangen. Am Anfang wischte sie die Tiere mit einem Tuch weg, so groß, so übermächtig war der Ekel. Irgendwann nahm sie die bloße Hand. Am Anfang gab es auch noch Betäubungsmittel, und die Mädchen schaufelten jedem Toten ein Grab. Später wurden den Patienten die Glieder ohne Narkose amputiert. Die Leichen warf man übereinander in einen Bombenkrater.

Jeden Morgen beim Wasserholen schaute sie, ob sie ihre Freundin entdeckte. „Du lebst noch!", rief sie ihr zu. Wenigstens das. Sie hatte keine Zeit zu reden, keine Zeit, sich auszuruhen. „Schülerin!", schrien die japanischen Soldaten, halb besinnungslos vor Schmerzen und Hunger. „Du bist müde", sagte eine Schulkameradin zu Yoshiko. „Ich übernehme deinen Dienst." Das Angebot empfand Yoshiko als Glück, doch annehmen konnte sie es nicht, denn sie wollte - so hatte sie es gelernt - „dem anderen nicht zur Last werden".

Am 18. Juni, plötzlich, hieß es kurz und knapp: „Eure Hingabe weiß man zu schätzen. Doch von nun an geht ihr eure eigenen Wege." Das japanische Militär trieb die Mädchen aus der Höhle - hinaus aufs Schlachtfeld. Es war noch nicht einmal Zorn, den Yoshiko spürte. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Warum jagte man sie aus dem Versteck? Hatte sie nicht ihr Bestes gegeben?

Nachts, wenn Yoshiko Shimabukuro schläft, hört der Krieg nie auf. In ihren Träumen muss sie rennen, sich auf den Boden werfen, weiterrennen, wie sie es damals tat. Sie sieht die Flammen, hört die Schüsse und die Schreie. Die Schiffe auf dem Meer, die Flugzeuge am Himmel, die Panzer auf dem Feld, alle schickten sie den Tod. Von 240 zwangsrekrutierten Schülerinnen und Lehrern überlebten 219 den Krieg nicht. Doch die meisten Mädchen kamen nicht während ihrer Arbeit als Krankenpflegerin um, sie starben innerhalb von wenigen Tagen nach ihrer Entlassung, als sie zwischen die Frontlinien gerieten.

War dieser Kaiser, in dessen Namen Japan kämpfte, war er noch ihr Kaiser nach dem Krieg?
Yoshiko Shimabukuro hält den Kopf gesenkt, ruhelos wandern ihre Finger, suchen Halt, finden keinen, tasten über ihr Notizbuch. „Der Tenno hatte eine gewisse Schuld an dem Krieg, aber er war es nicht allein. Es gab doch diese Militärclique." Das sagt sie drei Mal hintereinander. „Es sind so viele gestorben", flüstert sie. Dann schweigt sie.

Fast 40 Jahre lang redete Yoshiko Shimabukuro nicht über ihre Zeit als himeyuri, bis einige Überlebende ein Museum gründeten. Die Prinzessinlilien, vom japanischen Militär indoktriniert, benutzt und in den Tod geschickt, wurden zum Sinnbild für das Leid, das Okinawa widerfahren war.

Mehr als 90 Tage hatte hier der „Taifun aus Stahl" gewütet und über 200 000 Opfer gefordert, ein Drittel der Zivilbevölkerung war umgekommen. Er hatte die Menschen in Höhlen getrieben, immer tiefer waren sie in den Bauch der Insel gekrochen, wo es stickig war und dunkel. Die, die ins Helle zurückkehrten, mussten mit den Bildern leben. Japanische Soldaten, die Babys zum Tod verdammen, nur weil ihr Schreien das Versteck zu verraten droht, die Okinawer als Spione hinrichten, nur weil sie Dialekt sprechen, die schuldig werden am eigenen Volk. Töchter, die ihre Mütter bitten, mit „reinem Körper" sterben zu dürfen, ohne dass sich der fremde Mann an ihnen vergeht. Menschen, die sich mit Töpfen erschlagen, die Sichel schwingen, sich selbst verbrennen. Lieber Ehre im Tod als Schande in Gefangenschaft, lautete das Gebot aus Tokio. Beneidet wurden die, die Gift hatten. Der Amerikaner, hieß es, sei der Teufel.

Doch der Teufel nahm kleine Kinder auf den Arm, und später machte er sogar Geschenke. Er warf Butter, Käse und Pfefferminzdrops aus Propellermaschinen. Und viele Okinawer sahen in ihm den Befreier. Vor allem aber schauten die Menschen auf ihr zerstörtes Land, und sie fragten sich, was für eine Mutter dieses Mutterland wohl sei, das die Schlacht allein dazu genutzt hatte, um die Invasion auf den japanischen Hauptinseln hinauszuzögern.

Mehr als 60 Jahre später sind die Amerikaner immer noch da. Sie haben die Landkarte von Okinawa mit Flecken überzogen, jeder Fleck markiert einen Stützpunkt, sodass es aussieht, als habe die Insel Ausschlag. 75 Prozent der Fläche, die das US-Militär in Japan nutzt, liegt auf okinawischem Boden. Vom Schutz, den das bilaterale Sicherheitsbündnis mit den USA verspricht, profitiert ganz Japan, das voller Argwohn auf China und Nordkorea starrt und sogar einen Großteil der Stationierungskosten der US-Truppen übernimmt. Die Last aber trägt vor allem Okinawa. Kilometerlange Zäune trennen die Basen ab, mehr als 30 Anlagen zählt man auf der Insel. Vor dem Zaun, entlang der Straßen, wächst ein Wald aus Strommasten, Laternen und Reklametafeln. Hinter dem Zaun ziehen sich endlose grüne Flächen, Flachbauten, Parkplätze - amerikanische Weite inmitten von japanischem Großstadtgewirr.


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mare No. 58

No. 58Oktober / November 2006

Von Sandra Schulz und Chris Steele-Perkins

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, war mare-Redakteurin für Politik und Gesellschaft.

Chris Steele-Perkins, geboren 1947, fotografiert für die Agentur Magnum. Er ist mit einer Japanerin verheiratet und lebt in London und Tokio.

Sowohl Schulz als auch Steele-Perkins hat Okinawa überrascht: Es war lauter, chaotischer und herzlicher als das Japan, das sie kannten.

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, war mare-Redakteurin für Politik und Gesellschaft.

Chris Steele-Perkins, geboren 1947, fotografiert für die Agentur Magnum. Er ist mit einer Japanerin verheiratet und lebt in London und Tokio.

Sowohl Schulz als auch Steele-Perkins hat Okinawa überrascht: Es war lauter, chaotischer und herzlicher als das Japan, das sie kannten.
Person Von Sandra Schulz und Chris Steele-Perkins
Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, war mare-Redakteurin für Politik und Gesellschaft.

Chris Steele-Perkins, geboren 1947, fotografiert für die Agentur Magnum. Er ist mit einer Japanerin verheiratet und lebt in London und Tokio.

Sowohl Schulz als auch Steele-Perkins hat Okinawa überrascht: Es war lauter, chaotischer und herzlicher als das Japan, das sie kannten.
Person Von Sandra Schulz und Chris Steele-Perkins