Die menschliche Komödie

Kein anderes englisches Seebad verströmt eine radikalere Form des Urlaubsvergnügens. Blackpool ist der Prototyp des organisierten Massentourismus, mit billigem Sex, Bier und vulgären Späßen. Aber wer genau hinsieht, entdeckt eine authentische Nostalgie

Ladies, Gentlemen, reisen Sie nach Blackpool an einem Samstag, wie wir es getan haben. Fliegen Sie nach Manchester, setzen Sie sich in den Zug westwärts, zwei Stunden durch Englands Norden, quer durchs Brachland der Industriellen Revolution mit seinen seit Langem geschlossenen Textil- und Stahlfabriken und den herrlich grünen Weiden. An Blackpools Bahnhof angekommen, nehmen Sie entweder ein Taxi oder gehen 15 Minuten zu Fuß hinab in die City, Richtung Meer. Riechen Sie den Duft der Irischen See? Den Moder, die Algen, das Aroma des Abgrunds?

In Blackpool sterben durchschnittlich vier Prozent mehr Menschen als sonst in England und Wales, was womöglich daran liegt, dass die Menschen zum Sterben nach Blackpool kommen wie die Lachse zu ihrem Ursprung. Am Ende des Lebens – oder mitten in seinem misslingenden oder misslungenen Vollzug – kehren sie zurück an jenen Ort, den sie geliebt haben, in dem sie als Kinder oder Jugend-liche glücklich waren, in den sie kamen, weil hier, in blacky Blackpool, ihre schönsten Erinnerungen liegen und sie hier eine erste oder zweite oder dritte Geburt oder die Erfindung ihrer selbst erlebten. Weil Blackpool sie Freude, Ausgelassenheit und Liebe lehrte oder auch nur zwei Wochen im Jahr die Lust am Leben. Millionen Fremde, Millionen Unbekannte, Millionen Liebeshungrige, die jedes Jahr ins schwarze Loch am Westufer Englands strömen.

Black Pool. Der Name sinngemäß: ein derbes, tiefes, dunkles Loch. Verrucht, verkommen, verratzt. Spiel, Spaß, Sex, Bier und Rock ’n’ Roll, das Billige, Schlüpfrige, gnadenlos Vulgäre, aber nie die Höflichkeit, nie den Anstand, nie die Manieren verlieren! Sie sind in England, Empire, im Geburtsland von Liberalismus, Kommunismus und Kapitalismus, aber vor allem sind Sie in Blackpool, wo es weder Stil noch Klasse gibt, nur gepflegten Wahnsinn, unaufhörliches Gelächter und den kühlen Wind der Irischen See. Welcome in Fun City, Grafschaft Lancashire, 140 000 Einwohner, darunter viele Pensionäre und Senioren. Arbeitslosenquote: die üblichen sieben Prozent Nordwestenglands. Überdurchschnittlich viele, nämlich 3500, Hotels und Pensionen, Singles und schwangere Teenager. Blackpool geht jeden direkt an, sagt Du zu einem: Hey, toll, dass du da bist, wo immer du herkommst! Kaum ein Engländer ist dem Sog Blackpools in den vergangenen 120 Jahren entkommen, und weil sie stolz sind auf Tradition und Geschichte und die Geschichte ihrer Tradition, ist hier so gut wie alles legendary.

 

 

Sieh hinauf, Samstagmittag, der Himmel dicht und grau, und dann sieh nach vorn und staune, dass von überall her, über die Corporation, Church und Market Street, die Frauen hüpfen, trippeln und zur Promenade wanken, während vom Meer her kommend die Böen durch ihre Haartürme fegen. Kalt ist es, nasskalt, sagen wir, fünf, sechs Grad, aber diese Frauen gehen in T-Shirts, Miniröcken und High Heels, sie sind laut, beschwipst, enthemmt.

Der Blackpoolwahnsinn beginnt kurz nach drei, wenn in der „Merrie England Bar“ der Begriff „schamlos“ seine liederliche Auslegung erfährt. Je unverschämter, desto besser. Je peinlicher, desto blackpooliger. Peinlich im kontinentaleuropäischen Sinn gibt’s hier nicht. Was dem Deutschen peinlich ist, darüber lachen sie im „Merrie England“ in hehrer Eintracht. Peinlichkeit ist hier Prinzip, und Amusement das höchste Ziel des Daseins. So wird das Peinliche zum Amusement – das ist Blackpooldialektik.

Minimum zehn Frauen, auf deren T-Shirt „Jodie’s Hen Party“ gedruckt ist, stehen in rosa Stulpen, Lackmützen, ärmellosen Shirts, in je kürzeren, desto schärferen Röcken, mit einer Menge mysteriöser Tattoos und bisweilen hochgestülpter Fülligkeit in dieser, ja, wie soll man sagen: Bar, Kneipe, Schuppen, diesem Comedyladen am ältesten, 1863 errichteten Nordpier, und der ungeheuerliche, schändliche Joey Blower, diese großmäulige Blackpool comedy legend, gibt eine weitere Demonstration dessen zum Besten, was Alleinunterhaltung ist: immer am Rand der Schlüpfrigkeit, fast jeder Satz garniert mit einem fuck oder fucking. Die Gäste grölen und lachen, das „Merrie England“ ist proppenvoll, allzeit strömen neue Gruppen und Grüppchen herein, als Polizisten und Kardinäle verkleidete Frauen, auf Hochplateaus noch ein gewolltes Stück beeindruckender. Alter spielt keine Rolle, um Diät und Figur scheren sie sich nicht, und je rosalilaschriller das Make-up, desto besser.

Die Hymne des Nachmittags ist Tony Christies „Is This The Way To Amarillo?“, und alle, wirklich alle singen mit, während Joey durch die Reihen spaziert und Glatzen, Brüste und dazugehörige Paare lächerlich macht, dass selbst die Lächerlichgemachten lachen, und zwar mit allen anderen über sich selbst und keineswegs aus Verlegenheit. Zack, zack, bumm, ein Joke am anderen, Joey führt vor, Joey spießt auf, Joey lacht und singt. Alle zehn Minuten schleppt eine der Frauen aus der Gruppe „Jodie’s Hen Party“ eine neue Runde Plastikbecher Foster’s für je zwei Pfund heran, zehn Messbecher in zwei Händen, das ist normal, wer nach Blackpool kommt, feiert und trinkt mit vollen Händen und bringt Freunde und Familie mit, so war das immer, so wird das immer sein.

Draußen fährt gerade die lichterkettenumgürtete Tram vom Nord- zum Zentral- und weiter zum Südpier. Seit 126 Jahren rumpeln die überlackten, teils doppelstöckigen Holzwagen an der Promenade die „Goldene Meile“ auf und ab, 18 Kilometer von Cleveleys und Fleetwood die Küste südwärts zum so schäbig-alten wie neuerdings chic gestylten Vergnügungspark „Pleasure Beach“, parallel zum ewig langen Spazier- und Fahrradweg; und seit mindestens 126 Jahren fressen unter den Holzplankenstegen der Piers die Gezeiten an den Streben und Pfeilern aus Stahl, und während sich oben, in den Kabaretts, Bars und Showrooms, die Ausgelassenheit in die jeweils neue Runde katapultiert, halten unten die Arbeiter den Verfall auf. Sie schweißen Zukunft an Vergangenheit und setzen neue Streben ins Gewerk, bis die nächste Flut kommt und das schwarze Wasser durchs Gerüst schäumt und die Schläge seines Aufpralls grummeln wie Seufzer einer düs-teren Seele.


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mare No. 93

No. 93August / September 2012

Von Christian Schüle und Nicole Strasser

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien, ist freier Autor und lebt in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet; zuletzt erschien von ihm der Roman Das Ende unserer Tage.

Nicole Strasser, Jahrgang 1975, hat an der Hochschule Hannover Kommunikationsdesign studiert und ist seit 2009 freie Fotografin. Ihr fotografischer Essay über den spanischen Urlaubsort Benidorm (mit Christian Schüles Text, erschienen in mare No. 79/2010) wurde beim „Leica Oskar Barnack Preis“ 2009 unter die zehn besten Arbeiten gewählt; darüber hinaus erhielt sie ein Stipendium von der VG Bild-Kunst. Bereits in Benidorm entstand die Idee, eine Geschichte über Blackpool zu fotografieren. Beide Orte scheinen eine Verbindung zueinander zu haben – auch über die Tatsache hinaus, dass Engländer gern nach Benidorm reisen, um ein Blackpool in der Sonne zu finden.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien, ist freier Autor und lebt in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet; zuletzt erschien von ihm der Roman Das Ende unserer Tage.

Nicole Strasser, Jahrgang 1975, hat an der Hochschule Hannover Kommunikationsdesign studiert und ist seit 2009 freie Fotografin. Ihr fotografischer Essay über den spanischen Urlaubsort Benidorm (mit Christian Schüles Text, erschienen in mare No. 79/2010) wurde beim „Leica Oskar Barnack Preis“ 2009 unter die zehn besten Arbeiten gewählt; darüber hinaus erhielt sie ein Stipendium von der VG Bild-Kunst. Bereits in Benidorm entstand die Idee, eine Geschichte über Blackpool zu fotografieren. Beide Orte scheinen eine Verbindung zueinander zu haben – auch über die Tatsache hinaus, dass Engländer gern nach Benidorm reisen, um ein Blackpool in der Sonne zu finden.
Person Von Christian Schüle und Nicole Strasser
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien, ist freier Autor und lebt in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet; zuletzt erschien von ihm der Roman Das Ende unserer Tage.

Nicole Strasser, Jahrgang 1975, hat an der Hochschule Hannover Kommunikationsdesign studiert und ist seit 2009 freie Fotografin. Ihr fotografischer Essay über den spanischen Urlaubsort Benidorm (mit Christian Schüles Text, erschienen in mare No. 79/2010) wurde beim „Leica Oskar Barnack Preis“ 2009 unter die zehn besten Arbeiten gewählt; darüber hinaus erhielt sie ein Stipendium von der VG Bild-Kunst. Bereits in Benidorm entstand die Idee, eine Geschichte über Blackpool zu fotografieren. Beide Orte scheinen eine Verbindung zueinander zu haben – auch über die Tatsache hinaus, dass Engländer gern nach Benidorm reisen, um ein Blackpool in der Sonne zu finden.
Person Von Christian Schüle und Nicole Strasser