Die Meere des Meisters

Der Brite J. M. William Turner gilt als führender Marinemaler der Kunstgeschichte. Sein Ruhm gründet auf einer Malweise, die zugleich die konservativen wie auch die avantgardistischen Kunstsammler seiner Zeit begeisterte

Für die Jungen auf der Strasse war der kurzbeinige, untersetzte ältere Mann mit rotem Gesicht und auffälliger Nase ein vertrauter Anblick. Sie nannten ihn „Mops Booth“, während die Ladenbesitzer ihn respektvoller als „Admiral Booth“ ansprachen. Er lebte mit einer Frau, die man für seine Ehegattin hielt, in einem kleinen Haus, und niemand kam auf die Idee, dass dieser merkwürdige, oft ungehaltene Mann, der wie ein Seemann aussah, der größte Landschaftsmaler seiner Zeit war.
Die Darstellung des Meeres stand zeit seines Lebens im Mittelpunkt von Joseph Mallord William Turners Schaffen. Schon das erste Ölgemälde, das er 1796 in der jährlichen Sommerschau der Royal Academy ausstellte, war ein Seestück. Fishermen at Sea zeigt, wie vollkommen der junge Maler bereits mit 21 Jahren die reiche Tradition kontinentaler Marinemalerei für sich verarbeitet hatte. Es zeigt auch, was er damals technisch vermochte und seinem Publikum wohl vorführen wollte. Zwei entgegengesetzte Lichteffekte vereint Turner auf einer Leinwand: Dem kalten, weißen Schein des Mondes steht das warme Licht der Lampe des Fischerboots gegenüber. Ähnliche Kontraste malte er immer wieder, am eindrucksvollsten auf einem seiner berühmtesten Werke, The Fighting Temeraire aus dem Jahr 1839, dessen rechte Hälfte die Sonne anstrahlt, während links kühles Mondlicht leuchtet, aus dem das Schiff geisterhaft, wie eine Fata Morgana, auftaucht. Auf Fishermen at Sea kann man auch sehen, wie genau der Maler schon früh das Aussehen des Wassers bei unterschiedlichen Wetterbedingungen studiert hatte.
Seine Naturbeobachtung ging so weit, dass er sich, so will es die Legende, während eines Sturmes an den Mast eines Schiffes binden ließ, um dem tobenden Seegang so nah wie möglich zu sein. „Meine Aufgabe ist es, zu malen, was ich sehe, und nicht, was ich weiß“, schrieb der Künstler. Als ein Admiral dessen Bild The Wreck of a Transport Ship in der Galerie der British Institution sah, rief er aus: „Kein Schiff oder Boot kann in einer solchen See überleben!“ Turner ging es um die Darstellung der rohen Kraft des Meeres, und so roh wie das Meer sind auch die furiosen Pinselstriche, mit denen er die aufgewühlte See, die Wellen und Wirbel darstellt. Nicht alle begeisterten sich dafür. Kritiker monierten die zu üppige Verwendung von Weiß für die Gischt, warfen dem Maler schludrige Pinselführung vor und verglichen die pastose Bildoberfläche mit Erbsensuppe.
Mit seinen Seestücken steht der britische Maler in einer langen Tradition vor allem niederländischer und französischer Marinemalerei, seine Vorbilder waren Willem van de Velde der Jüngere und Claude-Joseph Vernet. Einen weiteren Niederländer, Jacob van Ruisdael, ehrte er gar damit, dass er den Hafen von Ruysdael erfand und mehrmals malte. Doch er ging weit über seine Vorbilder hinaus.
1775 als Sohn eines Londoner Barbiers und Perückenmachers geboren, zeigte William Turner schon früh künstlerisches Talent, das der Vater förderte. „Mein Sohn wird Maler werden“, soll er einem befreundeten Künstler gegenüber gesagt haben. Der Junge stellte seine Aquarelle im Schaufenster des väterlichen Ladens aus und verkaufte sie für ein paar Schilling. Nach einer Lehre als Architekturzeichner wurde er, ganze 14 Jahre alt, in die Schule der Royal Academy aufgenommen. Als 15-Jähriger stellte er erstmals in der Sommerausstellung der Academy aus, ein Landschaftsaquarell. Bis zu seinem Tod reichte er dort regelmäßig Arbeiten ein, doch das genügte ihm nicht. Schon in seiner ersten Wohnung in der Londoner Harley Street richtete er sich um 1804 eine Galerie ein, wo er seine eigene jährliche Ausstellung veranstaltete. 1810 zog er in die Queen Anne Street um und baute auch dort eine Galerie, mit dunkelroten Wänden. Er war, so schildern ihn Zeitgenossen, ein Mann mit einem intensiven und komplizierten Gefühlsleben, das aber nur selten an die Oberfläche gelangte. Eine dieser seltenen Gelegenheiten trug sich im Haus des Sammlers John Julius Angerstein zu, der ein Meisterwerk von Claude Lorrain besaß: The Embarkation of the Queen of Sheba (1648). Der Sammler fand ihn vor dem Gemälde stehend, aufgeregt und in Tränen. Nach dem Grund gefragt, antwortete Turner: „Weil ich nie in der Lage sein werde, ein solches Bild zu malen.“


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mare No. 103

No. 103April / Mai 2014

Von Hans Pietsch

Hans Pietsch, London-Korrespondent der Zeitschrift Art, lebt seit 1974 in der britischen Hauptstadt und war jahrelang Kulturredakteur bei der BBC. Er begann seine Laufbahn beim Südwestfunk Baden-Baden nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München, wo einer seiner Schwerpunkte die Malerei der Romantik war.

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Vita Hans Pietsch, London-Korrespondent der Zeitschrift Art, lebt seit 1974 in der britischen Hauptstadt und war jahrelang Kulturredakteur bei der BBC. Er begann seine Laufbahn beim Südwestfunk Baden-Baden nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München, wo einer seiner Schwerpunkte die Malerei der Romantik war.
Person Von Hans Pietsch
Vita Hans Pietsch, London-Korrespondent der Zeitschrift Art, lebt seit 1974 in der britischen Hauptstadt und war jahrelang Kulturredakteur bei der BBC. Er begann seine Laufbahn beim Südwestfunk Baden-Baden nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München, wo einer seiner Schwerpunkte die Malerei der Romantik war.
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