Die Materialschlacht

2700 Liberty-Schiffe lässt Amerika im Krieg gegen Hitler vom Stapel laufen. Doch die Massenfertigung hat ihre Tücken

Es ist eine dieser klaren, kalten Winternächte, in der kaum ein Lüftchen weht und man seinen Atem gemächlich in die Luft aufsteigen sieht. Eine windstille Nacht mit ruhiger See - so ganz untypisch für eine Havarie. Doch am 16. Januar 1943 gegen elf Uhr nachts grollt ein ohrenbetäubender Donnerschlag durch den Hafen von Portland, Oregon. Fast zwei Kilometer weit ist das Ächzen von berstendem Metall zu hören. Dann folgt Stille - keine Explosion, keine lodernden Flammen. Doch vor der Kaiser-Werft ragt ein bizarres Monument aus dem Wasser: Der brandneue Tanker "Schenectady" ist auseinander gebrochen, direkt hinter den Brückenaufbauten klafft ein Riss. Bug und Heck stecken tief im Wasser, dennoch macht das Schiff kein Wasser. Wie ein gigantisches Klappmesser liegt der 152 Meter lange Dampfer am Ausrüstungsdock. Die Bruchstelle in der Schiffsmitte liegt hoch und trocken.

"Minus drei Grad Lufttemperatur, vier Grad Wassertemperatur, schwacher Wind, Schaden ohne Fremdeinwirkung", halten die Bediensteten der US-Küstenwache in jener Nacht nüchtern in ihrem Protokoll fest. Sie stehen vor einem Rätsel. Chirurgisch präzise ist der Stahl gerissen - vom Deck bis zum Kiel, auf beiden Seiten des Rumpfs. Allein der Boden hält beide Hälften zusammen. Das Schiff ist zu diesem Zeitpunkt 24 Stunden alt.

Der Schock sitzt noch tief, als zwei Monate später ein Schwesterschiff der "Schenectady" verunglückt - ebenfalls ein neuer Tanker vom Typ T2. Beim Einlaufen in den Hafen von New York bricht die "Esso Manhattan" in zwei Hälften - ebenfalls bei gutem Wetter. Die Behörden sind alarmiert. Beide Schiffe stammen aus demselben Schiffbauprogramm - wie Hunderte anderer Tanker und Frachter auch.

"Schenectady" und "Esso Manhattan" sind Teil einer Kriegsstrategie der US-Regierung. Angesichts der vielen Frachter, die von deutschen U-Booten seit Kriegsbeginn versenkt wurden, hat US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Januar 1941 ein Schiffbauprogramm aufgelegt, das bis heute unübertroffen ist. Die neuen Schiffe sollen in langen Geleitzügen England und Russland mit Kriegsgerät versorgen.

Die United States Maritime Commission, die staatliche Schifffahrtsbehörde, entschied sich für einfache Konstruktionen - Frachter und Tanker, die sich in kurzer Zeit bauen ließen. Bei den T2-Tankern nahm sich die Behörde die amerikanischen Standard-Oil-Schiffe zum Vorbild, bei den Frachtern fiel die Wahl auf die Ocean-Klasse, von der in England bereits 60 Exemplare vom Stapel gelaufen waren. Allerdings übernahm die Maritime Commission nur die Form, bei der Produktion ging sie neue Wege, die für den Handelsschiffbau bahnbrechend waren. Statt den Rumpf wie bisher üblich zu nieten, wurde er vollständig geschweißt. Zudem setzten die Werftarbeiter nicht wie bisher Stahlplatte an Stahlplatte. Um schnellstmöglich viele Schiffe herzustellen, wurden im ganzen Land Zulieferbetriebe beauftragt, Segmente vorzufertigen. In den Werften mussten die Teile dann nur verschweißt werden. Heute ist das Standard, damals war es ein Novum im Handelsschiffbau.

Im September 1941 läuft das erste Schiff nach dem Vorbild der Ocean-Klasse vom Stapel, die "Patrick Henry". Jeder Amerikaner kennt den Namen aus den Schulbüchern. Patrick Henry (1736-1799) war Anwalt in Virginia und Kämpfer für die amerikanische Unabhängigkeit, und für Präsident Roosevelt kann das erste Schiff der Frachterflotte keinen besseren Namen haben. Die Vereinigten Staaten, verkündet er, erneuerten mit dieser Schiffstaufe den Schwur eines großen amerikanischen Patrioten:

"I know not what course others may take, but as for me, give me liberty or give me death" - Ich weiß nicht, welchen Weg andere einschlagen mögen, für mich aber gilt: Gebt mir die Freiheit oder gebt mir den Tod.

Mit seiner Rede verleiht Roosevelt gleich der gesamten neuen Flotte ihren Namen: "Liberty" heißen die Frachter nun, Freiheitsschiffe. Am selben Tag werden noch 14 weitere Frachter in Dienst gestellt. "Aber das ist noch lange kein Grund für Zufriedenheit", schärft der Präsident seinen Zuhörern ein, "wir müssen mehr Frachter bauen, und dann noch einmal mehr. Und wir müssen unsere Produktion beschleunigen, bis wir es schaffen, jeden Tag ein Schiff vom Stapel zu lassen. Und dann zwei Schiffe."


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mare No. 39

No. 39August / September 2003

Von Tim Schröder

Der Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt in Oldenburg. Von den berstenden Rümpfen der Liberty-Frachter erfuhr er erstmals im Labor eines Materialforschers, der für gewöhnlich Keramiken zum Platzen bringt.

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Vita Der Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt in Oldenburg. Von den berstenden Rümpfen der Liberty-Frachter erfuhr er erstmals im Labor eines Materialforschers, der für gewöhnlich Keramiken zum Platzen bringt.
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