Die Masche mit den Kulleraugen

Sympathischer Tollpatsch? Von wegen. Robben spielen gekonnt mit unseren Emotionen. Das Bild dieser Spezies bedarf einer Revision

Fünf banale Schlüsselreize sind es, die uns Menschen schwach werden lassen, hat der Verhaltensforscher Konrad Lorenz vor gut 60 Jahren entdeckt: große Augen, großer Kopf mit Pausbacken, Stupsnase, kurze Extremitäten und tollpatschige Bewegungen. Robbenartiger geht’s nicht! Diese Viecher kriegen uns mit der plumpen Babymasche rum. Wir können gar nicht anders, wir müssen sie lieben.

Bei den Inuit in Nordkanada galten Robben Anfang des 20. Jahrhunderts gar als heilig. „Es war nicht leicht, der Vorstellungswelt der Eskimos die Bedeutung der orientalischen Gleichnisse der Bibel nahe zu bringen“, notiert der Missionsarzt Wildfried Grenfell im Jahr 1909: „Daher musste das Lamm Gottes mit ,kotik‘ (Robbenkind) übersetzt werden. Dieses Tier, wie es da in seiner vollkommenen Weiße sanft und hilflos und mit dem rührenden Blick seiner unschuldigen Augen in seiner Eiswiege liegt, ist jedoch wahrscheinlich der beste Stellvertreter, den die Natur zu bieten hat.“

Das „Lamm Gottes“ symbolisiert in der christlichen Theologie Jesus Christus, der sich „für unsere Schuld“ ans Kreuz nageln ließ. Aktivisten von Greenpeace hätten in den 1970er Jahren beinahe den Spieß umgedreht und wären für die Robben gestorben: Der Tierschützer Al „Jet“ Johnson etwa warf sich im März 1976 in Nordkanada über Sattelrobbenbabys und schirmte sie mit seinem Körper gegen die Keulen der Robbenjäger ab.

Zoologisch gesehen sind Robben Raubtiere, wie die weit weniger beliebten Krokodile und Alligatoren. Doch sie wecken nicht etwa Angst, sondern unseren Beschützerinstinkt. Und mit ihren drallen Körperformen, sich lasziv auf dem Boden fläzend, sogar erotische Träume. Es ist bezeichnend, dass gerade Brigitte Bardot Robben über alles liebt. Sie spiegelte sich in jungen Jahren gleichsam in ihnen.

Kein Wunder, dass Männer da den Kopf verloren: 1977 schloss sich Greenpeace-Aktivist Bob Watson mit Handschellen an einen Ballen blutiger Robbenfelle an und ließ sich an einem Stahlseil vom Kran eines Fangschiffs abschleppen. Er wurde übers Eis geschleift, ins Wasser getaucht und wäre beinahe ertrunken. Trotzdem hatten die Journalisten lediglich Augen für Brigitte Bardot, die sich den Tierschützern angeschlossen hatte und dank ihres Busens mit den drallsten Robben mithalten konnte. BBs Einsatz für ihre sexy Schützlinge zeigte Wirkung: In ganz Europa rollte ein Welle der Entrüstung über die Umweltzerstörung an – weit über das Reizthema „Robbenabschlachten“ hinaus. Eine Erfolgsgeschichte.

Wie fatal sich die erotische Ausstrahlung der Robbe allerdings auch auswirken kann, besang in den frühen 1960er Jahren Joan Baez. „The Great Silkie of Sule Skerrie“ ist die Geschichte eines Seehunds, der an Land robbt und sich in einen jungen Mann verwandelt. Dort verführt er ein Mädchen, wird Vater und sucht das Weite. Er wird wieder zur Robbe und reißt den Sohn zu sich ins Meer hinab. Verzweifelt heiratet das verlassene Weib einen Jäger, der den infamen Seehund erschießt.

Wir lernen: Verbindungen zwischen Mensch und Robbe sind hochexplosiv, und Robben haben einen zweifelhaften Charakter. Doch womöglich ist es gerade auch das Geheimnisvolle, Zwielichtige, was uns Menschen insgeheim an diesen vermeintlich so arglosen Wesen fasziniert?


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mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Eine Polemik von Till Hein

Till Hein, 1969 in Salzburg geboren, ist freier Journalist in Berlin. Er hat in Basel und Wien Geschichte, Germanistik und Russisch studiert. 1996/1997 absolvierte er einen Redaktionslehrgang beim Österreichischen Nachrichtenmagazin Profil in Wien. Von 1999 bis 2001 war er beim Magazin der Süddeutschen Zeitung in München redaktioneller Mitarbeiter und schrieb nebenbei für die Zürcher Weltwoche. Seit Mai 2002 arbeitet er im Journalistenbüro textetage in Berlin und arbeitet unter anderem für die Zeit, Geo und Das Magazin aus Zürich. Zu seinen Themenbereiche gehören: Wissenschaft, Reise, Geschichte, Gesellschaft. Besonders gerne schreibt Till Hein über Geistesgrößen, Skurrilitäten des Alltags, Tiere und ferne Länder. Er spricht Deutsch, Baseldeutsch, Englisch, Französisch, Russisch, schlechtes Wienerisch und Italienisch. Hobbys: Essen, Aikido und Schlafen.

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Vita Till Hein, 1969 in Salzburg geboren, ist freier Journalist in Berlin. Er hat in Basel und Wien Geschichte, Germanistik und Russisch studiert. 1996/1997 absolvierte er einen Redaktionslehrgang beim Österreichischen Nachrichtenmagazin Profil in Wien. Von 1999 bis 2001 war er beim Magazin der Süddeutschen Zeitung in München redaktioneller Mitarbeiter und schrieb nebenbei für die Zürcher Weltwoche. Seit Mai 2002 arbeitet er im Journalistenbüro textetage in Berlin und arbeitet unter anderem für die Zeit, Geo und Das Magazin aus Zürich. Zu seinen Themenbereiche gehören: Wissenschaft, Reise, Geschichte, Gesellschaft. Besonders gerne schreibt Till Hein über Geistesgrößen, Skurrilitäten des Alltags, Tiere und ferne Länder. Er spricht Deutsch, Baseldeutsch, Englisch, Französisch, Russisch, schlechtes Wienerisch und Italienisch. Hobbys: Essen, Aikido und Schlafen.
Person Eine Polemik von Till Hein
Vita Till Hein, 1969 in Salzburg geboren, ist freier Journalist in Berlin. Er hat in Basel und Wien Geschichte, Germanistik und Russisch studiert. 1996/1997 absolvierte er einen Redaktionslehrgang beim Österreichischen Nachrichtenmagazin Profil in Wien. Von 1999 bis 2001 war er beim Magazin der Süddeutschen Zeitung in München redaktioneller Mitarbeiter und schrieb nebenbei für die Zürcher Weltwoche. Seit Mai 2002 arbeitet er im Journalistenbüro textetage in Berlin und arbeitet unter anderem für die Zeit, Geo und Das Magazin aus Zürich. Zu seinen Themenbereiche gehören: Wissenschaft, Reise, Geschichte, Gesellschaft. Besonders gerne schreibt Till Hein über Geistesgrößen, Skurrilitäten des Alltags, Tiere und ferne Länder. Er spricht Deutsch, Baseldeutsch, Englisch, Französisch, Russisch, schlechtes Wienerisch und Italienisch. Hobbys: Essen, Aikido und Schlafen.
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