Die Maoribulette

Für kross gebratene Fischlarven lassen Bewohner von Neuseelands Südinsel alles andere links liegen

Ätzend, diese Sandfliegen! Immer wieder setzen die blutgierigen Biester zur Landung an, um sich in Gesicht, Armen oder Beinen zu verbeißen. Tony Kerr lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Whitebait, das ist eigentlich gar kein richtiger Fisch“, doziert er und wendet auf seiner Bratplatte in aller Ruhe drei untertassengroße Omeletts.

Hinter Tony tritt der Waita River aus dem Regenwald und ergießt sich in einer großen Schlaufe in die Tasmanische See. Der nächste Supermarkt ist 160 Kilometer entfernt, im ganzen Bezirk leben auf jedem Quadratkilometer im Schnitt gerade 0,75 Einwohner. Niemandsland.

Wer an dieses Fleckchen Erde kommt, ist daher meist hungrig. Umso schöner, dass es hier Whitebait gibt. „Erzähle einem Neuseeländer, dass du die West Coast besuchst, und er wird dir sagen, dass du den unbedingt probieren musst“, sagt Tonys Frau Moana. „Denn das ist es, wofür wir hier berühmt sind.“

Whitebait, so steht es auf den kleinen Infotafeln neben Tonys Bratplatte, ist der Oberbegriff für die Larven von forellenähnlichen Süßwasserfischen aus der Familie der Galaxien. Im Frühling kommen sie, kaum länger als ein Streichholz und nahezu transparent wie Glas, millionenfach aus ihren Winterquartieren im Meer und wandern die Flüsse Neuseelands hinauf in die Marschen und Waldbäche, um dort erwachsen zu werden.

Einige davon schaffen es nicht. Moana zum Beispiel ist ganz verrückt nach den kleinen Dingern. „Kurz angebraten, ein wenig gewürzt und auf einem Salat serviert – mmh, einfach großartig.“ Über vier Generationen hat es die Kerrs deswegen immer wieder an den Waita River gezogen, Ende August, Anfang September. Dann, wenn der Whitebait kommt.

Tony und Moana sind die Ersten aus ihrer Familie, die daraus ein Geschäft gemacht haben. Das Ehepaar hat mit seinen beiden halbwüchsigen Söhnen vorher in der gut vier Autostunden entfernten Kleinstadt Hokitika gelebt. Als vor fünf Jahren dann am Waita eine Lizenz zum kommerziellen Whitebaiting frei wurde, ergriffen sie die Chance. Wegen des Lebens am Rand der Wildnis, wie sie sagen, zudem wohnt Tonys pensionierter Vater gleich um die Ecke.

Unter dem Namen „Curly Tree“, benannt nach einer knorrig verwachsenen Konifere an dem nahen Highway 6, servieren die Kerrs nun täglich „Whitebait Patties“, jene Omeletts von der Bratplatte, klassisch auf einer Scheibe Toast. Daneben unterhalten sie noch einen landesweiten Lieferservice für Restaurants und Fachgeschäfte und touren auf Festivals, denn, wie gesagt, für Whitebait ist die Westküste berühmt.

Schon die frühesten Maori schätzten die Larven. Mit Netzen aus Flachs stellten die Ureinwohner den Schwärmen nach und bauten Staustufen, um sie zu lenken. Später ersetzten europäische Pioniere den Flachs durch Baumwolle, und schon bald gerieten die Winzlinge zu einer wichtigen Nahrungsquelle für Kundschafter und Minenarbeiter. Neuseeland, könnte man sagen, wäre ohne Whitebait heute ein anderes Land.

Die Tradition ist bis in die Gegenwart quicklebendig. Im Frühjahr versammeln sich junge und alte Neuseeländer an den sonst so einsamen Flussmündungen, um sich ein Abendessen oder zwei zu fangen. Dank ihres nussigen, krabbenartigen Geschmacks gelten die Fischchen als eine der wenigen Vorzeigezutaten nationaler Cuisine, in manchen Jahren kostet das Kilo deutlich über umgerechnet 70 Euro.

Whitebaiting als Lebensunterhalt, so wie die Kerrs, betreiben dennoch nur wenige. „Ich glaube, viele scheuen das Risiko“, sagt Moana. Der Wanderzyklus und Fangvorschriften geben ihr und Tony nur zehn Wochen am Stück, um einen Vorrat anzulegen, der sie durch den Rest des Jahres bringt. Ob eine Saison gut oder schlecht wird, ist kaum vorherzusagen, schon gar nicht an der niederschlagsreichen West Coast. Denn wenn es regnet, wird die Strömung der Flüsse so stark, dass der Whitebait nicht wandern kann.

Bislang ist jedoch alles gut gegangen. „Wir fangen genug, um uns selbst zu versorgen, und kaufen von Freizeitfischern so viel dazu, dass wir unsere Bestellungen bedienen können.“ Ihren Umzug an den Waita River bereuen die Kerrs daher kein bisschen. „Wenn die Fische aus dem Netz in deinen Eimer rutschen, wirst du reich belohnt“, sagt Moana. „Dann macht Whitebaiting süchtig.“

 


Whitebait Patties

Zutaten (8 Patties für 4 Personen)

500 g Whitebait (alternativ: Glasaal, nur aus Zuchten!), 2 Eier, 30 g Butter, 1 große Zitrone, 8 Scheiben Toast.

Zubereitung

Die Eier aufschlagen und mit Whitebait verrühren. Salz und Pfeffer dazugeben. Butter in einer Pfanne zergehen lassen. Mit einem großen Löffel gleichmäßige Portionen von Whitebait in die Pfanne geben und von jeder Seite etwa zwei Minuten goldbraun braten. Patties mit einem Spritzer Zitrone würzen und auf einem Toast servieren.

Curly Tree

Waita River, State Highway 6, West Coast, Südinsel (zehn Kilometer nördlich des Ortes Haast; Ausschilderungen auf dem Highway folgen);

Telefon +64 3 750 00 97; geöffnet täglich von 10 bis 17 Uhr;

www.curlytreewhitebait.com

mare No. 109

No. 109April / Mai 2015

Von Roy Fabian und Lottie Hedley

Lottie Hedley, ursprünglich von einer Milchfarm in Neuseeland, tendiert ich dazu, Geschichten zu erzählen, in denen es eine Verbindung zum Land gibt. Aber ich bin auch zu Hause mit dem Fotografieren von fabelhaftem Essen, geschäftigen Küchen, Umweltporträts und den lyrischen Momenten des Alltags.

Roy Fabian, geboren 1981 an der Berliner Museumsinsel. Heute freier Journalist und Autor in Hamburg für diverse Print- und Onlinemedien. Interessiert sich für Biodiversität und Artenschutz, nachhaltige Stadtentwicklung und Gärtnerei. Mag zudem Berge, das Meer und Stromgitarren-Musik.

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Vita Lottie Hedley, ursprünglich von einer Milchfarm in Neuseeland, tendiert ich dazu, Geschichten zu erzählen, in denen es eine Verbindung zum Land gibt. Aber ich bin auch zu Hause mit dem Fotografieren von fabelhaftem Essen, geschäftigen Küchen, Umweltporträts und den lyrischen Momenten des Alltags.

Roy Fabian, geboren 1981 an der Berliner Museumsinsel. Heute freier Journalist und Autor in Hamburg für diverse Print- und Onlinemedien. Interessiert sich für Biodiversität und Artenschutz, nachhaltige Stadtentwicklung und Gärtnerei. Mag zudem Berge, das Meer und Stromgitarren-Musik.
Person Von Roy Fabian und Lottie Hedley
Vita Lottie Hedley, ursprünglich von einer Milchfarm in Neuseeland, tendiert ich dazu, Geschichten zu erzählen, in denen es eine Verbindung zum Land gibt. Aber ich bin auch zu Hause mit dem Fotografieren von fabelhaftem Essen, geschäftigen Küchen, Umweltporträts und den lyrischen Momenten des Alltags.

Roy Fabian, geboren 1981 an der Berliner Museumsinsel. Heute freier Journalist und Autor in Hamburg für diverse Print- und Onlinemedien. Interessiert sich für Biodiversität und Artenschutz, nachhaltige Stadtentwicklung und Gärtnerei. Mag zudem Berge, das Meer und Stromgitarren-Musik.
Person Von Roy Fabian und Lottie Hedley