Die letzten Heuler

Isoliert an Kanadas Westküste lebt eine Spezies der Wölfe, der eine bemerkenswerte Anpassung an ihren Lebensraum gelungen ist

mare: Frau Pflüger, bei Wölfen denkt man nicht zuerst an Küste oder Meer. Was unterscheidet Küstenwölfe von anderen Wölfen?

Gudrun Pflüger: Das ist vor allem ihr ungewöhnlicher Lebensraum und ihre perfekte Anpassung daran. Man darf sich die Küste von Westkanada nicht als gerade Linie vorstellen: da Meer, dort Land. Es ist vielmehr ein stark verzahnter Übergang zwischen Meer und Land, bestehend aus steilen Hängen, dichtem Regenwald und Flussmündungen, einem Labyrinth aus Inseln, Halbinseln und Kanälen. Die Tiere nutzen das Meer zur Nahrungssuche, zur Jagd und als Transportweg, um von einer Insel auf die andere zu gelangen. Die meisten Inseln sind nicht groß genug, um ein Wolfsrudel oder eine Wolfsfamilie zu ernähren. Dadurch haben viele Rudel mehrere Inseln als Lebensraum. Um Nahrung zu finden, müssen sie weite Strecken an Land wie auch schwimmend zurücklegen. Und wir haben beobachtet, dass sie ihre Jungen früh das Schwimmen lehren. Oder wie sie ihre Jungen mit riesigen Seetangen oder Algen spielen lassen. Sie werden von Anfang an ans Meer gewöhnt.

Ihr Kollege Ian McAllister schreibt in seinem Buch, dass Küstenwölfe weit draußen im offenen Meer schwimmen. Wie weit draußen?

Ich habe Wolfskot auf einer Insel gefunden, die zwölf Kilometer vom Festland entfernt ist. Das war hoch im Norden, dort gibt es starke Strömungen. Eventuell stammte der Kot von einem Hitchhiker-Wolf, der sich auf Schwemmholz hat treiben lassen. Aber Wölfe sind generell gute Schwimmer. Mein Skipper hat mehrmals Wölfe schwimmen sehen. Er hat festgestellt, dass sie vor allem dann schwimmen, wenn die sogenannte slack time herrscht, also jener Moment, in dem sich Ebbe und Flut aufheben, wenn kaum Strömung herrscht.

Haben Küstenwölfe Schwimmhäute?

(Lacht) Schwimmhäute, nein, die haben sie nicht. Aber sie sehen schon etwas anders aus als ihre Verwandten auf dem Festland. Ihr Fell ist rötlich-ockerfarben, ähnlich der Farbe von Lachsen oder vor allem der Farbe freigelegter Algen in der Gezeitenzone, wo sie gerne nach Nahrung suchen. Wenn sie in der Gezeitenzone liegen, sieht man sie wirklich nicht. Das dürfte eine Anpassung an ihren Lebensraum sein. Es ist aber nicht nur die besondere Farbe, die sie unterscheidet. Die Küstenwölfe haben auch viel kürzeres und ein bisschen stärker gewelltes Fell, das an dieses permanente Nieseln und den Regen gut angepasst ist.

Was steht auf dem Speiseplan der Tiere?

Die Hauptbeute des Küstenwolfs ist der Schwarzwedelhirsch. Zu einem guten Teil ernähren sie sich aber auch vom Meer. Je weiter entfernt vom Festland ein Wolfsrudel lebt, desto mehr wird das Meer zur Nahrungsquelle. Sie fressen, was das Meer hergibt, also Meeresfrüchte, die ans Land gespült werden, Muscheln, Krebse, manchmal sogar angeschwemmte Wale, Seehunde, Kraken oder Fische, die verenden. Aber Wölfe sind nicht die großen Aasfresser; wenn es etwas Frisches gibt, dann bevorzugen sie dieses. Bei den Wölfen auf den outer coast islands, diesen flacheren, windgepeitschten und auch mehr moosigen, moorigen Inseln, kann das auch einmal ein Seehund sein, der unaufmerksam war und von seinem Ruhefelsen geschnappt wird.

Während des Lachszugs im Spätsommer stellt der Wolf über drei Monate komplett auf Meeresnahrung um. Dann brodelt es in den Flüssen von laichenden Lachsen, und es gibt keine leichtere Beute für die Wölfe. Wenn ein ganzes Rudel nach Lachsen fischt, wollen die Tiere beim Fressen ihre Ruhe haben und tragen den Lachs tief in die Wälder. Die Wölfe erfüllen damit eine wichtige ökologische Aufgabe: Sie düngen den Boden mit Stickstoff. Und weil sie nur den Kopf fressen, bleibt viel übrig. Sie sind die Gärtner der großen Wälder.

In der Kultur der Ureinwohner, der First Nations, spielt der Wolf eine wichtige Rolle.

Für die Heiltsuk-Indianer ist der Wolf eines der wichtigsten Clantiere. Ihre lange, komplizierte Entstehungsgeschichte führen sie auf einen Wolf zurück: Er ist der Vater der ersten Kinder ihres Stammes. Eines der Kinder bleibt ein Wolf. Darum ist der Wolf für sie der Stammvater und Urahn. Wölfe sind ihre Brüder.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 108. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 108

No. 108Februar / März 2015

Von Irina Schefer und Ian McAllister

Irina Schefer lebt als Coach in Berlin und ist Autorin des Buches Wie Wölfe mit Vertrauen führen …. Ian McAllister arbeitet für die Non-Profit-Wildschutzorganisation Pacific Wild und lebt mit seiner Familie auf einer Insel im Great Bear Rainforest.

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Vita Irina Schefer lebt als Coach in Berlin und ist Autorin des Buches Wie Wölfe mit Vertrauen führen …. Ian McAllister arbeitet für die Non-Profit-Wildschutzorganisation Pacific Wild und lebt mit seiner Familie auf einer Insel im Great Bear Rainforest.
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Vita Irina Schefer lebt als Coach in Berlin und ist Autorin des Buches Wie Wölfe mit Vertrauen führen …. Ian McAllister arbeitet für die Non-Profit-Wildschutzorganisation Pacific Wild und lebt mit seiner Familie auf einer Insel im Great Bear Rainforest.
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