Die Lehre von der Leere

Wüste und Ozean sind das Refugium der Freiheit. Sie gewinnt erst in Ozeanen aus Sand und Wasser ihre sinnliche Totalität

Im Leeren Viertel, der riesigen Sandwüste Südarabiens, finden an manchen Abenden die Kräfte ihr vollkommenes Gleichgewicht. Die Sonne liegt begraben hinter den Dünen, aber sie leuchtet weiter, als käme ihr Licht aus der Tiefe und hätte die Kraft, den Sand zu durchstrahlen wie rosafarbene Haut. Die trommelnde Hitze des Tages ist zerflossen, doch die Kälte der Nacht hat ihre Kristalle noch nicht gesammelt. Welle um Welle umfangen sich Täler und Kämme aus wogendem Sand. Die Welt als Transformation: Staub und Steine haben sich verwandelt, in die ins Maßlose vergrößerte Oberfläche eines Blütenblatts.

Vor den Felsklippen von Saint-Malo, an der bretonischen Küste, verschwimmen an diesigen Tagen das Flüssige und das Feste. Matte Feuchtigkeit und glänzende Härte vermischen sich in einer Metallurgie des Meeres: das stumpfe Zink, das leuchtende Silber, das zitternde Quecksilber, ein wenig Kupfergrün, das tiefe Blau von Platin, und, hoffnungsvoll am Horizont, eine Ahnung von Gold. Der Dünung liquides Auf und Ab ist erstarrt zur Ebene aus Erz, die ständige Bewegung abgekühlt und eine uferlose Fläche von Zeitlosigkeit eingezogen in das Metronom der Wellenschläge.

Nichts ist, wie es ist. Diese Konstante aus Mythen und Märchen beschreibt die Charaktere von Wüste und See; sie beschreibt auch, warum beide sich gleichen in ihrer Art, totale Landschaften zu sein, und darin allen anderen entgegenstehen. An den Grenzen der Wahrnehmung berühren sich Wasser und Erde, die höchste Konkretion und die abstrakteste Unendlichkeit, und schlagen ineinander um. Ganz nah wird im nächsten Augenblick unendlich fern – innigst verschwistert wie Innen und Außen eines Tropfens.

Sandmeer und Wasseröde sind lieblich und trostlos zugleich. Sie ähneln sich in der Süße, der sie sich in friedlichen Momenten hingeben, als könne alles gut werden, und sie gleichen sich in der chaotischen Erbarmungslosigkeit von peitschenden Wogen und wirbelndem Sand, in der brutalen Wiederholung, der uferlosen Ausdehnung. Meer und Einöde sind absolute Räume, die den Menschen nicht dulden. Sie stellen sich seinen Kräften als massive und bedrohliche Blöcke entgegen. Aber gerade aus dieser physischen Bedrängnis verheißen sie Transzendenz, die bessere Welt, die Oase im Nichts, die unbewohnte Insel.

Warum fühlen wir diese Anziehung durch das schlechthin Fremde? Die Philosophen des 18. Jahrhunderts, die dem ästhetischen Denken den Namen gaben, entwickelten die antike Theorie der Erhabenheit weiter: Menschen begeisterten sich am Schauer, solange sie ihn aus sicherer Entfernung genießen könnten – am besten romantisch auf Leinwand gemalt. Das Feierliche der Wüste am Abend, das Eherne der diesigen See – nicht für sich selbst sei es schön, sondern nur durch unsere Erleichterung, verschont zu sein.

Für den Philosophen entstehen Herrliches und Schreckliches überhaupt erst im Kopf. Wasser und Wüste übten einen Sog auf die Imagination aus, weil sie leere Räume bildeten – Blankoschecks des Sublimen, die nicht aus sich selbst heraus ihren Zauber entfalteten, sondern imprägniert seien von kulturellen Moden. Wüstenwanderer wie Heinrich Barth, so heißt es, schunden sich für einen romantischen Mythos – der oft, wenn das Ziel erreicht war, in sich zusammenfiel, wie der Ruf der sagenhaften Stadt Timbuktu südlich der Sahara, die Barth als dreckiges Nest erlebte. Die Unendlichkeit des Sandes, der Wasser, eine Projektionsfläche der Fantasie, die gleichsam zu Halluzinationen einlade?

Gewiss halluziniert, wer zu lange durstig durch die Dünen stolpert. Doch ist diese Wirkung keine Projektion, sondern Wassermangel. Die Hyperrealität der Extremräume ist Realität der Sinne. Die Magie der Einöde besteht darin, dass ihre Brutalität dem einen Sinn enthüllt, der sich ihr körperlich aussetzt. Wer das Erhabene erträgt, dem gehört die Welt, dem ist ihre Essenz bis auf den Grund transparent. Erst hier, am Rande eines rauen Todes, kann sie sich als unendlich feines Gespinst aus Zärtlichkeit offenbaren. Sie vermag es, und das ist ihr Lohn, mit all ihrer Fremdheit sich in plötzlichem Aufleuchten zutiefst als Heimat zu offenbaren. Die abendwarme Unendlichkeit kristallenen Sandes: Entbehrung wird in Schönheit ausgezahlt, die namenlose Entbehrung in namenloser Schönheit abgegolten.

Der englische Abenteurer Wilfred Thesiger, der mehrmals das Leere Viertel, Rub’ al-Khali, durchquerte, konnte es nie erwarten, in die Wüste aufzubrechen, in ihre Qualen ständigen Dürstens. Thesiger suchte das Gefühl der Überwältigung, um verändert daraus hervorzugehen. Wer sich dem Zauber der tödlichen Räume aussetzt, versteht die magische Sprache der Erde – nicht in einem geographischen, sondern in einem innerlichen Sinn. Was ihm den Atem raubt, ist Einsicht: dass das Paradies hier ist – und dass auch der Stein dazugehört, die brüllende Wasserwand, dass es Fels ist von seinem Fels, Wasser von seinem Wasser.


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mare No. 45

No. 45August / September 2004

Ein Essay von Andreas Weber

Andreas Weber, Jahrgang 1967, lebt als freier Autor und Dozent für Journalistik bei Hamburg. In seiner Eigenschaft als in Philosophie promovierter Biologe hat ihn die abstrakte Frage nach der Gemeinsamkeit zweier so gegensätzlicher Lebensräume wie Meer und Wüste natürlich interessiert.

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Vita Andreas Weber, Jahrgang 1967, lebt als freier Autor und Dozent für Journalistik bei Hamburg. In seiner Eigenschaft als in Philosophie promovierter Biologe hat ihn die abstrakte Frage nach der Gemeinsamkeit zweier so gegensätzlicher Lebensräume wie Meer und Wüste natürlich interessiert.
Person Ein Essay von Andreas Weber
Vita Andreas Weber, Jahrgang 1967, lebt als freier Autor und Dozent für Journalistik bei Hamburg. In seiner Eigenschaft als in Philosophie promovierter Biologe hat ihn die abstrakte Frage nach der Gemeinsamkeit zweier so gegensätzlicher Lebensräume wie Meer und Wüste natürlich interessiert.
Person Ein Essay von Andreas Weber