Die kleine Nordostpassage

Abkürzung mit Tücken: Die Lotsen auf der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraße der Welt leisten Maßarbeit

Das befremdet, ist nicht das, was man sieht auf der Brücke der „Crystal Emerald". Bildschirme mit Radaranzeigen, chromglänzende Kontrollgeräte, die alles Erdenkliche aus dem Bauch des modernen Chemietankers vermelden, diverse Kompasseinrichtungen. All das durfte man erwarten, so oder ähnlich. Was einen stutzen lässt, ist eher das, was fehlt: das Steuerrad - dieser zur Sprichwörtlichkeit gerundete Inbegriff christlicher Seefahrt. Dieses Mythenrad, an dem in Einsamkeit, Sturm und Nacht einer noch seinen Mann stehen konnte. Heute sitzt Mann. Und zwar auf einer Art Barhocker, und der „Steurer" hat dabei einen Joystick in der Hand, einen kleinen Hebel, dessen Minimalausschläge über sichere Fahrt oder Havarie entscheiden.

„Steurer" ist hier kein Synonym für den Rudergänger: Steurer oder Kanalsteurer sind die Fachleute, die an Bord kommen, um Schiffe ab einer bestimmten Größenordnung durch den Kanal zu lenken, denn das ist auf der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraße der Welt ein Job, der keinen Spielraum für Fehler lässt. Lotsen stehen zusätzlich auf der Brücke, als verantwortliche Berater der Kapitäne und nicht zuletzt als Wegweiser durch die Vorschriften.

Harald von Bosse, Ex-Kapitän und mit 61 einer der erfahrensten Lotsen auf dem Nordostseekanal (NOK), kennt sie natürlich in- und auswendig. Nur die seiner Meinung nach wichtigste Richtlinie steht nirgendwo: „Das Gesetz von Herrn Bernoulli. Jeder Verstoß dagegen wird bestraft. Und zwar gna - den - los."

Daniel Bernoulli, Schweizer Universalgelehrter des 18. Jahrhunderts und Pionier der Hydrodynamik, stellte fest, dass der Druck in einem Gas oder einer Flüssigkeit mit zunehmender Fließgeschwindigkeit abnimmt. Deshalb klappen Schirme im starken Wind nach oben; die schnellere Strömung außen ergibt einen Unterdruck, der den Schirm ansaugt. Auf den NOK übertragen, kann der Effekt katastrophale Folgen haben: Kommt ein Schiffsrumpf mit der üblichen Kanaldurchfahrtsgeschwindigkeit von 15 Kilometer pro Stunde zu dicht an die rechte Seite, nimmt der Wasserdruck zwischen Schiffsrumpf und Land ab. Das Schiff wird förmlich vom Ufer angesaugt, kommt vom Kurs ab und rammt schlimmstenfalls den Gegenverkehr.

Prinzipiell ist die Sache mit Bernoulli jedem Kapitän bekannt. Aber hat sie der Seemann, der die Weite der Ozeane gewöhnt ist, auch so weit verinnerlicht, dass er im Ernstfall ohne Zögern reagiert? Etwa dann, wenn ihm exakt auf der eigenen Spur jemand entgegenbrummt? Auch erfahrene Steuerleute unterliegen dann intuitiv dem Trugschluss, die Hauptgefahr drohe von vorne. Aber „am Gegenverkehr kommt man schon fast von selbst vorbei", meint von Bosse.

Die Passagetechnik erinnert den Laien allerdings ein wenig an die automobile Selbstmordmutprobe, die sich in den USA immer noch großer Beliebtheit erfreuen soll: Zwei Wagen, beide den linken Vorderreifen auf der Mittellinie, rasen aufeinander zu. Wer als Erster ausweicht, hat verloren.

Auch im Kanal laufen zwei dicke Pötte, die schon ihres Tiefgangs wegen die Kanalmitte bevorzugen, scheinbar gefährlich lange auf Kollisionskurs, ehe sie ein leichter Tick am Steuerjoystick voneinander absetzt. Den Rest besorgt die zwischen den beiden Stahlleibern gestauchte Wassersäule - sie drückt die Schiffe auseinander. Würden sich die Dampfer indes respektvoll ausweichen, so wie es der gesunde Menschenverstand eigentlich suggeriert: dann geht es - siehe oben - ab ins Seitenaus. Damit das nicht passiert, gibt es auf dem Kanal seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Lotsenannahme- und Steurerpflicht. Eine doppelte Sicherheitsstufe, die sonst nur noch auf der Wasserstraße zwischen Ijmuiden und Amsterdam üblich ist - wenn auch nicht mehr streng verbindlich.

Die Kanalsteurer verschieben zwischen Ost- und Nordsee mit ruhiger Hand Millionenwerte, und die Verkehrsstatistik ist gleichsam ihre Erfolgsbilanz: Die 98 Kilometer lange Verbindung zwischen Kieler Förde und Elbmündung durchfahren 98,8 Prozent der jährlich 28000 lotsenpflichtigen Schiffe ohne nennenswerten Zwischenfall. Lotsenpflichtig sind alle Schiffe, deren Maße die Obergrenze für „Selbststeurer" überschreiten: 115 Meter Länge, 15,5 Meter Breite.

Jedes Kanalschiff wird nach Größe (Länge, Breite, Eintauchtiefe) auf einer Skala von 1 bis 6 klassifiziert und im Übrigen auch nach Ladekapazität zur Kasse gebeten. Ein Schiff durchschnittlicher Größe wie die „Crystal Emerald" zahlt derzeit rund 1700 Euro für die Passage. Mit dieser Gebühr hat man die Sicherheit gekauft, nicht plötzlich spektakulär in die Böschung zu gehen. „Wenn wir an dem Schaufelbagger da vorn nicht sauber vorbeikommen", unkt Steurer Wolfgang Bode, „dann stehen wir morgen in der Zeitung. Aber wir können es nicht mehr lesen." Was er meint, erschließt sich jedem, der die Ladeliste liest, die auf dem Kartentisch vorschriftsmäßig in einem Sichtfach steckt. Der Chemietanker „Crystal Emerald" ist randvoll mit finnischem Kerosin für afrikanische Lampen. Ein 120 Meter langer Sprengsatz.


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mare No. 42

No. 42Februar / März 2004

Von Claus-Peter Lieckfeld und Markus Kröger

Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, ist freier Journalist mit Wohnsitz in Windach beim Ammersee, wo er als Jollensegler jedem „Entgegenkommer" bequem ausweichen kann.

Der Hamburger Markus Kröger, geboren 1959, hat sich auf Architekturfotografie spezialisiert. Zu seiner Verwunderung musste er am NOK, der verkehrsreichsten künstlichen Wasserstraße, gelegentlich stundenlang warten, bis das nächste Schiff ins Bild fuhr. Dann war wieder eine Schleuse defekt, die Frachter standen im Stau.

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Vita Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, ist freier Journalist mit Wohnsitz in Windach beim Ammersee, wo er als Jollensegler jedem „Entgegenkommer" bequem ausweichen kann.

Der Hamburger Markus Kröger, geboren 1959, hat sich auf Architekturfotografie spezialisiert. Zu seiner Verwunderung musste er am NOK, der verkehrsreichsten künstlichen Wasserstraße, gelegentlich stundenlang warten, bis das nächste Schiff ins Bild fuhr. Dann war wieder eine Schleuse defekt, die Frachter standen im Stau.
Person Von Claus-Peter Lieckfeld und Markus Kröger
Vita Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, ist freier Journalist mit Wohnsitz in Windach beim Ammersee, wo er als Jollensegler jedem „Entgegenkommer" bequem ausweichen kann.

Der Hamburger Markus Kröger, geboren 1959, hat sich auf Architekturfotografie spezialisiert. Zu seiner Verwunderung musste er am NOK, der verkehrsreichsten künstlichen Wasserstraße, gelegentlich stundenlang warten, bis das nächste Schiff ins Bild fuhr. Dann war wieder eine Schleuse defekt, die Frachter standen im Stau.
Person Von Claus-Peter Lieckfeld und Markus Kröger